Das Literarische Quartett "Wir werden über Bücher sprechen, und zwar, wie wir immer sprechen: liebevoll und etwas gemein, gütig und vielleicht ein bisschen bösartig, aber auf jeden Fall sehr klar und deutlich. Denn die Deutlichkeit ist die Höflichkeit der Kritik der Kritiker." (Marcel Reich-Ranicki im Literarischen Quartett am 18. März 1993) Wie Reich-Ranicki seinen Kritikern mit rhetorischem Understatement den Wind aus den Segeln nimmt: "Gibt es im 'Quartett' ordentliche Analysen literarischer Werke? Nein, niemals. Wird hier vereinfacht? Unentwegt. Ist das Ergebnis oberflächlich? Es ist sogar sehr oberflächlich." (M.R-R.: Mein Leben. S. 538.)
"Im Falle Reich-Ranickis war das Fernsehen als Eitelkeitsmaschine seines Daseins Glück und Unglück. Es hat den Kritiker Reich-Ranicki zugleich unerhört popularisiert und beschädigt. Er ist heute prominenter als die meisten Autoren und Bücher, über die er sich äußert." So schreibt Sigrid Löffler nach ihrem spektakulären Ausstieg aus dem "Literarischen Quartett" in ihrer neu gegründeten Zeitschrift "Literaturen" (Heft 1/2002). Abgesehen davon, dass Löffler durch ihre 12-jährige Tätigkeit für das "Literarische Quartett" selbst stark popularisiert und möglicherweise beschädigt wurde, beleuchtet dieses Zitat doch die Ambivalenz der Fernsehkarriere des Großkritikers. Die von Reich-Ranicki selbst am wenigsten geleugnete Vereinfachung und Verknappung der Buchbesprechungen für das Bildmedium Fernsehen hat seine Kritiker in ihrem ablehnenden Urteil nur bestärkt, andererseits hat die fernsehkonforme Literaturvermittlung die Popularität Reich-Ranickis ins Unermessliche gesteigert und auch den Verlagen der behandelten Bücher zu beachtlichen Verkaufszahlen verholfen. Am 25. März 1988 wurde die erste Folge des "Literarischen Quartetts" im ZDF ausgestrahlt, eine Sendung, in der ausschließlich über Bücher gesprochen wurde. "Wozu können eigentlich solche Gespräche dienlich sein? Literatur ist zum - man verzeihe das harte Wort - Lesen da", stellte Joachim Kaiser in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 28.3.1988 anlässlich dieser ungewöhnlichen Fernsehpremiere missbilligend fest. Trotz dieser zunächst negativen Resonanz bei Reich-Ranickis Kritikerkollegen etablierte sich die Literatursendung schnell zu einer der wichtigsten, weil einflussreichsten Institutionen des literarischen Lebens. Neben Hellmuth Karasek und Sigrid Löffler waren anfangs noch Jürgen Busche und nach dessen baldigem Ausscheiden Klara Obermüller als ständige Mitglieder des "Quartetts" tätig. Seit 1990, nach Obermüllers Weggang, nahmen dann wechselnde Gäste, meist Kritiker oder Verleger, ferner Schriftsteller auf dem vierten Sessel Platz. In 75 Minuten wurden von vier Kritikern fünf Bücher ohne Spickzettel und weitgehend auch ohne Zitate besprochen. Damit blieben im Schnitt weniger als vier Minuten Redezeit pro Kritiker und Buch, was naturgemäß den Vorwurf der unangemessenen Oberflächlichkeit provozierte. "Kurz und gut: Gibt es im 'Quartett' ordentliche Analysen literarischer Werke? Nein, niemals. Wird hier vereinfacht? Unentwegt. Ist das Ergebnis oberflächlich? Es ist sogar sehr oberflächlich." So weit Marcel Reich-Ranickis illusionslose Replik auf derartige Vorwürfe. (Mein Leben, S. 538) Beim Publikum kam die Sendung wegen ihrer lebhaften und teils deftigen Streitgespräche, die natürlich von der autoritären Figur Reich-Ranickis dominiert wurden, sehr gut an. Obwohl durch das puristische Konzept und das aufeinander eingespielte Personal der Eindruck der Spontaneität erweckt wurde, lebte das "Literarische Quartett" in zunehmendem Maße von einer recht stereotypen Rollenverteilung der Diskutanten, deren literarische Beurteilungskriterien sich vorwiegend auf inhaltlichen Realismus beschränkten. Die Zuschauer wussten und erwarteten, dass Reich-Ranicki bei bestimmten Themen schulmeisterlich den Zeigefinger zum finalen Verdikt erheben, theatralisch die Hände über dem Kopf zusammenschlagen oder mit leidender Miene die Beiträge seiner Partner zur Kenntnis nehmen würde. Nicht umsonst wurde Reich-Ranicki - ausgerechnet ein Literaturkritiker und kein Politiker oder Popstar - zum meistparodierten Prominenten jener Zeit. Im Sommer 2000 kam es schließlich zu einer folgenreichen Krise des "Literarischen Quartetts". In der Sendung vom 30. Juli entzündete sich während der Diskussion um den erotischen Roman "Gefährliche Geliebte" von Haruki Murakami ein deftiger Streit. Sigrid Löffler zeigte sich vom "hirnerweichenden Vögeln" der Romanfigur Murakamis derart irritiert, dass sie das Buch als "literarisches Fastfood" abqualifizierte und ihm erbost die "rote Karte" zeigte. Für Marcel Reich-Ranicki und Hellmuth Karasek war Löfflers Ablehnung indes einmal mehr Indiz dafür, dass ihre Kollegin erotische Literatur grundsätzlich ablehne. Damit stand der Vorwurf der Frigidität implizit im Raum und Löffler war hiervon sichtlich betroffen. Nachdem der Streit noch außerhalb der Sendung weitergeführt und insbesondere von der Klatschpresse dankbar aufgenommen wurde, sah sich Sigrid Löffler gezwungen, das "Quartett" zu verlassen. Nach dem Zerwürfnis nahm Iris Radisch, Literaturredakteurin bei der "Zeit", Löfflers Platz ein, jedoch nur für kurze Zeit: Nach 13 Jahren und 77 Sendungen, 385 besprochenen Büchern endete mit der Sendung vom 14. Dezember 2001 (Bericht von literaturkritik.de hier) die Ära des "Literarischen Quartetts" (auf Einladung des Bundespräsidenten Rau im Schloss Bellevue). Knapp 900 000 Zuschauer haben die Sendung im Durchschnitt verfolgt - angesichts der späten Sendezeit, des nicht gerade fernseh-typischen Themas und des in den letzten Jahren ungünstigen Sendeplatzes (freitags) ein unerhörter Erfolg. Einzelheiten und Ergänzungen Im Rahmen der literarischen Reihe des Kulturmagazins "aspekte" wurde die erste Sendung des "Literarischen Quartetts" am 25.03.1988 im ZDF ausgestrahlt. Das Sendekonzept des "Literarischen Quartetts" sah 75 Minuten vor, in denen sich renommierte Literaturkritiker über deutschsprachige sowie über europäische Literatur austauschen sollten. Marcel Reich-Ranicki, Sigrid Löffler und Hellmuth Karasek bildeten den Kreis ständiger Teilnehmer. Sigrid Löffler wurde von Reich-Ranicki als „eine der geistreichsten Frauen Österreichs“ vorgestellt. Sie verkörperte die Rolle der Frau in einer sonst ausschließlichen Männerrunde. Weiterhin war sie als Österreicherin für die Literatur ihres Landes zuständig. Hellmuth Karasek wurde auf Grund seiner Tätigkeit als Theater-, Film- und Literaturkritiker in das "Literarische Quartett" berufen. In der ersten Sendung am 25.03.1988 gab Marcel Reich-Ranicki den Fernsehzuschauern die Konzeption des "Literarischen Quartetts" bekannt: „Meine Damen und Herren, dies ist keine Talkshow. Was wir zu bieten haben ist nichts anderes als Worte, Worte, Worte, 75 Minuten lang Worte – und wenn’s gutgeht, das ist ein Ziel, aufs innigste zu wünschen, vielleicht auch Gedanken. Wir werden über Bücher sprechen und über Schriftsteller, also nichts anderes als Literatur. Es wird zu einem Streitgespräch wahrscheinlich kommen. Das wird unvermeidbar sein, und das wollen wir auch gar nicht vermeiden. Über Literatur werden wir reden, und die Literaten werden sich vielleicht freuen oder ärgern, aber diese Sendung ist nicht für Literaten bestimmt – auch für Literaten – aber vor allem für die Freunde der Literatur, für alle Freunde der Literatur. Die freilich, die keine Freunde der Literatur sind, die haben wahrscheinlich jetzt den falschen Kanal gewählt, die könnten sich in dem Folgenden langweilen. Die anderen hoffentlich nicht. Also 75 Minuten über Literatur heute. Vier Personen nehmen daran teil: Es heißt ja, ein Quartett sei es.“ Das "Literarische Quartett" lebte von Ritualen: Zunächst wurden die Teilnehmer durch Marcel Reich-Ranicki vorgestellt, ehe Hinweise auf die zu besprechenden Bücher oder Autoren gegeben wurden. Es folgten Zwischenresümees, "Auseinandersetzungen", Themenwechsel und der Schlusssatz Marcel Reich-Ranickis - ein modifiziertes Brecht-Zitat aus "Der gute Mensch von Sezuan": "Und so sehen wir betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen." Entwicklungen Nicht nur Veränderungen auf dramaturgischer, sondern auch auf personeller Ebene beeinflussten die Präsentation des "Literarischen Quartetts". An den ersten sechs Sendungen vom 25.03.88 bis zum 17.06.89 nahm neben Marcel Reich Ranicki, Sigrid Löffler und Hellmuth Karasek auch Jürgen Busche teil. Bei seiner Vorstellung Busches betonte Marcel Reich-Ranicki vor allem dessen journalistische Kompetenz. In den ersten sechs Sendungen blieb die Sitzordnung noch unverändert: Während die besondere Stellung Reich-Ranickis dadurch betont wurde, dass er auf einem Zweisitzer saß, nahmen die übrigen Teilnehmer auf Sesseln Platz. Hellmuth Karasek saß links von Reich-Ranicki, rechts von ihm nahm Sigrid Löffler Platz und zu ihrer Rechten Jürgen Busche. Jürgen Busche schied nach den ersten sechs Sendungen aus dem "Literarischen Quartett" aus, da er einen ihm angebotenen Posten im Bundespräsidialamt angenommen hatte. Er wurde in den Sendungen vom 12.10.89 und 30.11.89 von Klara Obermüller, einer Literaturkritikerin aus der Schweiz, ersetzt. Am 12.10.89 war das erste Mal Publikum anwesend, das den "Live-Charakter" hervorheben sollte. Später wurde die Raumaufteilung verändert und die Distanz zum Publikum verringert, die Erhöhung der Sitzgruppe blieb jedoch erhalten. Die personelle Zusammensetzung des "Literarischen Quartetts" änderte sich erneut. Der Drehbuchautor Jurek Becker nahm Klara Obermüllers Platz ein. Jeweils ein Gast wurde eingeladen. Markante Streitpunkte Ein erster großer literarischer Streit über Bücher und Meinungen entbrannte 1995, als Marcel Reich-Ranicki das Buch von Günter Grass "Ein weites Feld" mit negativer Kritik überschüttete. Ein weiterer Streit, der für noch mehr Aufsehen sorgte, war der Marcel Reich-Ranickis mit Sigrid Löffler im Sommer 2000, der Löffler veranlasste, aus dem "Literarischen Quartett" auszuscheiden. Anlass waren die Auseinandersetzungen um den erotischen Roman "Gefährliche Geliebte" von Haruki Murakami. Die sexistische Sprache des Romans traf bei Sigrid Löffler auf vehemente Ablehnung. Ausdrücke wie "hirnerweichendes Vögeln" disqualifizierte Löffler als "literarisches Fastfood" . Marcel Reich-Ranicki unterstellte ihr ein grundsätzliches und persönliches Problem mit Liebesromanen. Er warf ihr vor, das Buch allein seiner erotischen Passagen wegen abzulehnen. Aufgrund dieser verbalen Attacke entschloss sich Sigrid Löffler am 30. Juni 2000, das "Literarische Quartett" zu verlassen. Nachfolgerin wurde Iris Radisch, Literaturredakteurin der Zeit. Der öffentliche Streit zwischen Reich-Ranicki und Löffler setzte sich allerdings fort und wurde in den Medien immer weiter ausgeschlachtet. So erfuhr man, Marcel Reich-Ranicki habe Sigrid Löffler als „widerliches, niederträchtiges Weib“ beschimpft, während sie von „medialer Inkontinenz“ gegenüber Reich-Ranicki sprach. Ein Interview (oder die Parodie eines Interviews?) in "Literaturcafe" vom August 2000 enthält dazu einige Richtigstellungen.
Epilog Am 29. April 2005 präsentierte das ZDF eine Art Neuauflage der Sendung, eine Sonderausgabe , in der Marcel Reich-Ranicki, Iris Radisch, Hellmuth Karasek und Elke Heidenreich über Friedrich Schiller diskutierten. Die Sendung fand so große Resonanz, dass am 17. August 2005 aus Anlass des 50. Todestages von Thomas Mann eine weitere ins Programm genommen wurde. Mit dem Gast Robert Gernhardt wurde hier über Thomas Manns Novellen "Tristan", "Der Tod in Venedig", "Mario und der Zauberer" und "Tonio Kröger" diskutiert. Zum 150. Todesjahr von Heinrich Heine sendete das ZDF am 3. Februar 2006 eine weitere Extra-Ausgabe. Gast war dabei Monika Maron. Alle im damaligen "Literarischen Quartett" besprochenen Bücher (aphabetisch nach Autoren) hier. Ab Oktober 2015 wurde die Sendung mit Volker Weidermann (Moderator), Christine Westermann, Maxim Biller (bis Dezember 2016), Thea Dorn (seit März 2017) und wie früher mit einem jeweils wechselnden Gastkritiker fortgesetzt. Seit März 2020 wird das Literarische Quartett von Thea Dorn mit jeweils drei wechselnden Gästen moderiert. Literaturhinweise Das Literarische Quartett. Gesamtausgabe aller 77 Sendungen von 1988 bis 2001. Drei Bände. Berlin: Directmedia Publishing 2006. 644, 667, 671 Seiten (MRR,
Sigrid Löffler,
Hellmuth Karasek) ...und
alle Fragen offen.
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Hg. von Stephan Reichenberger
unter Mitarbeit von
Alex Rühle und
Christopher Schmidt.
Mit einem Vorwort
von Johannes Willms.
München: Heyne
2000. 768 Seiten,
€ 9,95 Der Band enthält, chronologisch und nach den besprochenen Autoren und Titeln geordnet, Aufzeichnungen der Diskussionen im Literarischen Quartett (in Auszügen) bis Dezember 1999. Der Anhang listet die besprochenen Bücher, die Mitglieder und Gäste (mit biografischen Notizen) auf und hat ein Personenregister. Elke
Hussel: Marcel
Reich Ranicki und
'Das Literarische
Quartett' im
Lichte der Systemtheorie.
Die Fragen, denen sich die Arbeit stellt, heißen: Nach welchen Prinzipien funktioniert Literaturkritik? Und in Luhmann'scher Manier: Welche Anschlussoperationen werden durch das "Literarische Quartett" erhalten? (Gustav Mechlenburg in literaturkritik.de, Februar 2002) Rainer Hartmann: Literaturkritik im literaturfernen Medium Fernsehen. Literaturvermittlung im Spannungsfeld zwischen kritischem Anspruch und TV-Realität am Beispiel des „Literarischen Quartetts“ mit Marcel Reich-Ranicki. Marburg: Verlag LiteraturWissenschaft.de 2011. Manuel Bauer: Im Fernsehen über Literatur reden. Beobachtungen zum (alten und neuen) Literarischen Quartett. In: Schnittstellen. Wechselbeziehungen zwischen Literatur, Film, Fernsehen und digitalen Medien. Hg. v. Andrea Bartl, Corina Erk und Jörn Glasenapp. Paderborn: Brill Fink 2022. S. 203-229. Das
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