Der Kanon Der
Kanon. Die deutsche
Literatur:
Der Essaykanon, der das Projekt Ende März 2006 abschloss, enthält 255 Texte von 166 Autoren, von Luther bis Günter Grass, von Lessing bis Max Frisch, von Leopold von Ranke bis Hannah Arendt, von Beethoven bis Arnold Schönberg, von Max Reinhardt bis Friedrich Dürrenmatt, von Lichtenberg bis Albert Einstein, von Bismarck bis Willy Brandt – Essays über Deutschland und die Deutschen, Aufsätze zur Literatur, Kunst und Musik, Theater- und Filmkritiken, Reden zur Politik und Gesellschaft. An Prozessen der Kanon-Bildung hat Reich-Ranicki schon oft und mit viel Resonanz mitgewirkt, am spektakulärsten im "Spiegel" vom 18.6.2001, der mit Reich-Ranicki auf dem Titelbild seinen Leitartikel dem Thema "Was man lesen muss" widmete. Hier präsentierte der Kritiker in einem Gespräch mit Volker Hage seinen persönlichen Kanon deutscher Literatur und adressierte ihn vor allem an Deutschlehrer und Schüler. Die Liste (vollständig hier) reichte vom "Nibelungenlied" bis zu Gedichten von Robert Gernhardt. In
seinem "Kanon",
der am 21. September
2002 in einem Buchpaket
erschienen ist,
präsentiert Reich-Ranicki
20 Romane (von
17 Schriftstellern)
aus der deutschen
Literatur von der
Goethezeit bis
zur Gegenwart,
die er für die
bedeutendsten und
wichtigsten hält.
Die Leitlinie von
Reich-Ranickis
Titel-Auswahl war
nicht nur die Qualität
der Bücher, sondern
auch ihr Unterhaltungswert
für einen aufgeschlossenen
Leser. Reich-Ranicki
will diesen Kanon
nicht wie ein Gesetzbuch
oder eine Vorschrift
verstanden wissen,
aber doch als eine
Art Richtschnur,
die zeigen will,
was lesenswert
ist und was man
eigentlich gelesen
haben sollte. Sechs Verlage haben bei diesem Projekt kooperiert. Die Federführung liegt beim Suhrkamp Verlag, erschienen ist "Der Kanon" im Insel Verlag. Der Preis für das gesamte Buchpaket im Umfang von insgesamt 8200 Seiten beträgt 149,90 Euro. Einzelne Bände aus diesem Schuber kann man nicht beziehen. Der Roman-Kanon war der Anfang. Im Oktober 2003 erschienen 180 Erzählungen in einer zehnbändigen Buchkassette. Es folgten Kassetten mit Dramen (September 2004) und Gedichten (November 2005). Die letzte Kassette mit Essays ist am 28. März 2006 ausgeliefert worden. Vgl. die Seite des Insel Verlages "Der Kanon" [die Seite wurde inzwischen aus dem Netz genommen; 7.4.2011]. Von diesem Kanon-Projekt unterschieden sind Textsammlungen, die sich auf persönliche Vorlieben berufen. Deren erster Band ist im Frühjahr 2003 erschienen und trägt den programmatischen Titel "Meine Gedichte". Im Herbst 2003 erschien der Band "Meine Geschichten". Marcel Reich-Ranickis Kanon deutschsprachiger Literatur enthält 20 Romane von 17 Schriftstellern: Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers; Die Wahlverwandtschaften / E.T.A. Hoffmann: Die Elixiere des Teufels / Gottfried Keller: Der grüne Heinrich / Theodor Fontane: Frau Jenny Treibel; Effie Briest / Thomas Mann: Buddenbrooks / Heinrich Mann: Professor Unrat / Hermann Hesse: Unterm Rad / Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törless / Franz Kafka: Der Proceß / Thomas Mann: Der Zauberberg / Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz / Josph Roth: Radetzkymarsch / Anna Seghers: Das siebte Kreuz / Heimito von Doderer: Die Strudlhofstiege / Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras / Günter Grass: Die Blechtrommel / Max Frisch: Montauk / Thomas Bernhard: Holzfällen. Im Oktober 2003 erschienen 180 Erzählungen von 90 Autoren: von Johann Wolfgang Goethe, E. T. A. Hoffmann, Theodor Storm und Arthur Schnitzler bis zu Anna Seghers, Heinrich Böll, Günter Grass und Jurek Becker. Vollständiges Titelverzeichnis hier. Im September 2004 erschien der Dramen-Kanon , im November 2005 der Gedicht-Kanon.. Marcel Reich-Ranicki über seinen Roman-Kanon "Zwanzig bedeutende Romane der deutschen Literatur: lebendig und lesbar, auch heute noch - Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte nach ihrer Entstehung." "Was ein Kanon für die Literatur nicht ist und nicht sein soll, läßt sich leicht sagen. Er ist weder ein Gesetzbuch noch ein Katalog, weder eine Anordnung oder Anweisung noch eine Vorschrift. [...] Mit anderen Worten: Jede und jeder kann und soll lesen, was sie oder er will. Autoritäre Anleitungen sind unerwünscht, aufdringliche Besserwisser unwillkommen." "Ich bin, wenn ich mich der französischen oder spanischen oder italienischen Literatur zuwende, sehr dankbar, wenn mir jemand hilft. Ich bin auf ihn angewiesen, auf den Kanon." "Ein Kanon ist nicht etwa ein Gesetzbuch, sondern eine Liste empfehlenswerter, wichtiger, exemplarischer und, wenn es um die Schule geht, für den Unterricht besonders geeigneter Werke." "Dieser Kanon sollte letztlich nichts anderes enthalten als freundliche Hinweise, Vorschläge und Empfehlungen. Es ist nur ein höfliches Angebot, in dem sich eine eher schüchterne Anleitung verbirgt, ein eher diskreter Fingerzeig. Und damit ist wohl endlich gesagt, wozu wir den Kanon brauchen." Zur strittigen Frage, warum er gerade die Bücher ausgewählt hat, die in seinem Kanon enthalten sind und nicht andere, die es ohne Zweifel auch verdient hätten, meint Reich-Ranicki: "Im Laufe der Jahre und Jahrzehnte kommen viele literarische Werke hinzu, die [in den Kanon] aufgenommen werden sollten. Aber ein Kanon kann nicht unentwegt wachsen - [...] Daher müssen wir auf nicht wenige literarische Werke, die früher zum Kanon gehörten (und zwar durchaus zu Recht) und die uns in unserer Jugend vertraut und lieb waren, jetzt verzichten. Sie müssen unbarmherzig entfernt werden, um Platz für Neues zu schaffen. Geboten wird nicht mehr und nicht weniger als die eiserne Ration." "Wer aber unsere Kanon-Bibliothek für fragwürdig hält, der findet mich auf seiner Seite. Ich meine das ernst. Nur bin ich überzeugt, daß der Verzicht auf einen Kanon in einer zivilisierten Gesellschaft verhängnisvoll, ja unvorstellbar ist. Er wäre ein Rückfall in Willkür und Beliebigkeit, in Chaos und Ratlosigkeit, ein Rückfall in die Barbarei." (zitiert nach der Homepage zu dem Kanon-Projekt, die der "Perlentaucher" für den Insel Verlag eingerichtet hat [die Homepage wurde inzwischen aus dem Netz genommen; 7.4.2011]) Siehe auch das Gespräch mit Uwe Wittstock in der Berliner "Morgenpost" vom 27. Mai 2002: "Literatur ist vor allem ein Spiel".
Resonanz
in der Presse auf
den Roman-Kanon "Der Kanon" fand
in der Presse große und kritische Resonanz. Die Kritik entzündete
sich – und entzündet sich immer noch - weniger an den Titeln, die bereits
einen festen Platz in der deutschen Literaturgeschichte haben, als vielmehr
an Büchern, die nach 1945 geschrieben und nicht berücksichtigt wurden.
So hat z.B. Günter Grass mit seiner "Blechtrommel" Aufnahme
in den Kanon gefunden, Heinrich Böll, der ja wie Grass ebenfalls Literaturnobelpreisträger
war, jedoch nicht. Auch Martin Walser ist mit keinem seiner Romane vertreten.
Zudem hat kein Buch Aufnahme in den Kanon gefunden, das nach Thomas Bernhards
"Holzfällen" von 1984 erschienen ist. Kräftige Zustimmung kam von der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung"; auf zwei Seiten ließ man jüngere Autoren einzelne Titel auf ihre Kanontauglichkeit prüfen. Heftig tadelte dagegen die "Süddeutsche Zeitung" - schwankend zwischen Hohn und Empörung - das Unternehmen "Der Kanon" und bezeichnete es als unseriös. Süddeutsche Zeitung, 20.09.2002 (Thomas Steinfeld): In diesem Herbst nun soll sich die Kassette aller Kassetten in den Buchhandlungen stapeln: zwanzig Bände mit "über achttausend Seiten" eine dicke weiße Kompaktanlage der Dichtkunst für "nur 149,90 Euro", einschließlich rotem Handgriff. Heute wird Marcel Reich-Ranickis Kassette mit dem Titel "Der Kanon. Die deutsche Literatur. Romane" ausgeliefert, morgen wird dieser Ghettoblaster der deutschsprachigen Prosa überall zu kaufen sein. [...] Kein Wort gegen Johann Wolfgang Goethes "Leiden
des jungen Werthers" [...]. Kein Wort gegen Thomas Manns "Buddenbrooks"
[...]. Keines gegen Thomas Bernhards "Holzfällen" [...]. Kein
Wort schließlich gegen ein Publikum, das sich in seiner Rat- und Orientierungslosigkeit
an einen Mann wendet, den es für den exemplarischen Leser, den Leser aller
Leser, hält, für eine erfahrene, gebildete, vertrauenswürdige Person im
Umgang mit Literatur. Kein Wort schließlich gegen Marcel Reich-Ranickis
Entscheidung, auf die ihm sicherlich oft gestellte Frage zu antworten,
was man denn lesen müsse. Nur – was auf diese Weise entsteht, ist kein
Kanon, sondern beim besten Willen nicht mehr als eine knappe Liste mit
persönlichen Empfehlungen. Den eigenen Geschmack aber, so begründet er
sein mag, für einen Kanon zu halten, ist nur ein grandioses Missverständnis
seiner selbst. Es ist deshalb völlig sinnlos, sich über die Auswahl der
Romane und über den Umfang dieser Sammlung zu streiten. Warum [...] nun die kleine Hochstapelei, eine
Liste womöglich mit gutem Grund berühmter Bücher, aber doch auch persönlicher
Lieblingslektüren zu "dem Kanon" zu erklären? Mag sein,
dass sich die beteiligten Verlage darüber freuen, ein paar in jüngster
Zeit nicht mehr sonderlich erfolgreiche Titel aus ihrer backlist neu unter
das Volk bringen zu können. Aber wichtiger ist ein anderes Motiv: Zwanzig
Bücher unter Hunderten, ja Tausenden auszuwählen, mit radikaler Willkür
sich für diese zwanzig und für keine anderen zu entscheiden, ist ein Akt
der entschiedenen Reduktion von Komplexität. So wird eine Welt geschlossen,
zugemacht, verriegelt. [...] Dieser "Kanon" ist daher eine Entscheidung wider das schlechte Gewissen, wider das ungute Gefühl, das den stets nur halb gebildeten Menschen angesichts so vieler ungelesener Werke, so vieler ungehörter Konzerte, so vieler unbesuchter Theateraufführungen überkommt. Kurz: dieser "Kanon" ist das typische Produkt einer Gesellschaft, die sich von einem internationalen Vergleich angeblich lebenspraktisch entscheidender Kenntnisse so sehr hat erschrecken lassen, dass sie den "Bildungsnotstand" ausgerufen hat und nun Rettung sucht in allerhand Veranstaltungen, in denen mehr oder minder nutzlose Kenntnisse mit Bildung verwechselt werden. Dieser "Kanon" ist im Geist einer Fernsehsendung namens "Wer wird Millionär?" entstanden. "Kompetenz" ist das Schlüsselwort für diese Verwechslung, und darin steckt die Verwandlung von lebendigem Wissen in eine abrufbare Fertigkeit. Dieses Verlangen nach Kompetenz liegt der Gestaltung des angeblichen "Kanons" als scheinbar verdichtetes Wissen, als Kompaktanlage zugrunde. An solchem Instrumentalismus indessen geht alle Bildung zugrunde – falls sie nicht, was noch wahrscheinlicher ist, von vornherein das Erscheinen eingestellt hat [...]. Süddeutsche Zeitung, 22.05.2002 (Thomas Steinfeld) Unter Barbaren. Marcel Reich-Ranicki und der deutsche Literaturkanon [zu der letzten der oben zitierten Äußerungen Reich-Ranickis] "Kanon oder Verwahrlosung" lautet seine Drohung, und zu diesem Zweck inszeniert er uns den Untergang des Abendlandes auf einer ganz großen Bühne. [...] Manchmal aber verbirgt sich in einem Schreckensboten ein liebes, treues, harmloses Herz. Vielleicht ist das auch in diesem Fall so, und Marcel Reich-Ranicki ist aus lauter Zuneigung zur Literatur ins falsche Genre gerutscht - [...]. Vielleicht hat er aus lauter Leidenschaft seine Lieblingsbücher mit dem Urteil des Weltgeists verwechselt und seinen privaten Geschmack für große Geschichtsphilosophie gehalten. [...] Aber auch in einem solchen Fall hat der Satz diesen unangenehm drohenden Ton, und auch in diesem Fall klingt er so, als wolle da einer den Gehorsam des deutschen Lesevolkes auf die Probe stellen. Deshalb erscheint uns die Idee, den Kanon deutschsprachiger Literatur auf zwanzig Romane zu reduzieren und das so geschnürte und mit dem Aufdruck "Marcel Reich-Ranicki" bedruckte Paket mit der Drohung verscherbeln zu wollen, ohne Lektüre erwarte uns der Absturz in die intellektuelle Bedeutungslosigkeit, als reichlich unseriös. Dass die Edition "Der Kanon. Die deutsche Literatur" und die Barbarei eine Alternative sein sollen - das will uns partout nicht einleuchten. Frankfurter
Rundschau (xx) :
"Vielleicht
erfüllt sich der
repräsentative Teil
der Kritikerbiografie
Reich-Ranickis in
dem Kanon-Projekt.
Es sei ihm zu gönnen.
Wenn man den alten
Herrn vergnügt mit
dem noch leeren Pappschuber
in der Hand fuchteln
sieht, weiß man:
Es ist gut." Frankfurter
Allgemeine Zeitung,
22.5.2002 (Hubert
Spiegel): Heute diktiert Marcel Reich-Ranicki den Deutschen seinen literarischen Kanon: Erste Reaktionen der jungen deutschen Literatur. Am heutigen Mittwoch wird in Frankfurt ein
Buchprojekt vorgestellt, das von einigem Ehrgeiz zeugt. Es handelt sich
um den Versuch, die wichtigsten Romane der deutschsprachigen Literatur
in einem Pappschuber zu versammeln und mit einem Tragegriff zu versehen.
Die portative Nationalliteratur also: zwanzig deutschsprachige Romane
vom späten achtzehnten bis zum späten zwanzigsten Jahrhundert, zusammengefaßt
unter dem Titel: "Der Kanon. Die deutsche Literatur. Romane."
Ihr Herausgeber: Marcel Reich-Ranicki. Wer alle vier Kassetten
erwirbt und die darin enthaltenen Werke liest, darf sich rühmen, all jene
Werke der deutschen Literatur zu kennen, die Marcel Reich-Ranicki für
die wichtigsten hält. Das ist zuwenig, um damit glücklich zu werden, aber
mehr als genug, um herrlich darüber zu streiten. Wir haben einige der wichtigsten jüngeren deutschen Autoren gebeten, Reich-Ranickis Auswahl anhand von jeweils einem der zwanzig Romane zu prüfen. Das Ergebnis: Liebeserklärungen, rüde Abfuhren und heftige Attacken. Thomas Hettche liebt zwar Goethes "Wahlverwandtschaften", lehnt jedoch Reich-Ranickis Unternehmen empört und vehement ab. Dies ist nicht zuletzt der Protest der jüngeren Generation, die sich übergangen sieht und deren Bedeutung die Auswahl bestreitet. Daß kein Buch Aufnahme in den Kanon gefunden hat, das nach Thomas Bernhards "Holzfällen" von 1984 erschien, gilt Hettche als Beleg für die "verstockte Perspektive einer bestimmten Generation". Die Kanon-Debatte ist immer auch eine Generations-Debatte. [...] Geblieben ist auch die Frage, ob wir einen Kanon brauchen. Als die emanzipatorische Pädagogik den Kanon bekämpfte, wollte sie den Leser von normativen Zwängen befreien. Wo Freiräume geschaffen werden sollten, sind jedoch karge Steppen entstanden. Es ist kein Wunder, daß im Zusammenhang der für deutsche Schulen ungünstig ausgefallenen Pisa-Studie auch die Frage laut wurde, ob der Unterricht noch auf den Kanon verzichten dürfe. Zahlreich sind die Versuche der letzten Jahre, Schneisen in den Dschungel der Kulturgeschichte zu schlagen. Kein Jahr, in dem nicht irgendein Gremium seine Auswahl der besten Bücher aller Zeiten verkündete. Das Bedürfnis nach Orientierungshilfen wächst, nicht nur in den Schulen. Aber nicht zuletzt an die Schüler wird Reich-Ranicki gedacht haben. Für ihn steht die Notwendigkeit eines Kanons außer Frage. Eine zivilisierte Gesellschaft ohne Kanon ist ihm unvorstellbar, ihr drohte der Rückfall in Willkür und Beliebigkeit, ja sogar in die "Barbarei". Vielleicht nicht gerade Barbarei, aber gewiß Willkür und Beliebigkeit bei der Auswahl der zwanzig Romane wird Reich-Ranicki nun vorgeworfen werden. [...] Wo
ist Uwe Johnson,
wo Martin Walser?
Aber kein Kanon ist
perfekt, jeder gleicht
einer Krücke. Er
ist ein Hilfsmittel,
ein Instrument; es
gibt ihn, damit man
als Leser über ihn
hinauswachsen kann. Neue Zürcher Zeitung, 25.5.2002 (Roman Bucheli) Die
Umsätze im Buchhandel
gehen zurück. Zwar
wird immer mehr geschrieben,
vielleicht auch immer
mehr gelesen, bestimmt
aber immer weniger
verkauft. So schlug
die Stunde der Marktstrategen.
Und die fanden: Neue
Schläuche braucht
der alte Wein. Der
alte Wein - das waren
hier zwanzig deutschsprachige
Romane aus sechs
Verlagen und halb
so vielen Jahrhunderten:
von Goethes "Werther"
bis Bernhards "Holzfällen". Rheinischer
Merkur Nr.
26 / 2001
(von Christiane Florin): Wer rettet das Abendland
vor dem kulturellen
Schiffbruch? Marcel
Reich-Ranicki natürlich.
Er hat ein Rundum-Sorglos-Paket
gepackt: eine Prise
Brecht, ein bisschen
Goethe, die ganzen
"Buddenbrooks".
Die Sache hat nur
einen Haken: Lesen
muss man immer noch
selbst. Heinrich
Manns "Untertan"
ist ein ganz und
gar überflüssiges
Buch. [...] Kein
Wunder, dass Marcel
Reich-Ranicki [...]
[ihn] nicht in seinen
"Spiegel"-Literaturkanon
aufgenommen hat.
Als verstaubt gilt
ihm fast alles, was
der Bruder des heiligen
Thomas von Lübeck
zu Papier gebracht
hat. Kein
Wunder aber auch,
dass Marcels Liste
die Kollegen ärgert.
Vor allem jene, die
ein Kritikerdasein
ohne eigene Fernsehsendung
führen müssen. Es lohnt sich nicht, die Listenlänge zu kommentieren. Auch der Aufschrei "Wo ist Walser? Wo ist Walser?" wäre eine Verschwendung intellektueller Ressourcen. Am Abgrund, oder um den "Spiegel" zu zitieren, "in einem Zeitalter des kulturellen Schiffbruchs", geht es ums Grundsätzliche. Die Arche Noah ist in Seenot, weil niemand auf den einzigen Gerechten gehört hat. Hera-Lind-Romane kamen darob gleich paarweise aufs Boot, Mutter Courage blieb samt ihrer Kinder an Land zurück. Ein Blick in die Bibel hätte das Schlimmste verhindern können, aber auch die ging früh über Bord. Apropos Bibel: Vielleicht bedient der Literaturpapst den Hunger nach Dogmen in einer säkularisierten Welt. Oder hat er weniger fromme Absichten? Gießt er den Deutschen nur jenes Gebräu ein, nach dem sie genetisch bedingt dürsten: autoritäres Starkbier? Das Zentralorgan aus dem starkbiergestählten München jedenfalls gibt eine eindeutige Antwort: Von wegen religiöse Sehnsucht! Einen "spezifisch deutschen Hang zum Masochismus" wittert Willi Winkler in der "Süddeutschen Zeitung". Kanon - schon das Wort zischt wie ein Rohrstock durch die Luft, auch wenn es weder s noch z zu bieten hat. Da steht der perfide Kalauer "Ein Volk, ein Reich, ein Ranicki" mit unsichtbarer Kreide an der Tafel. [...] Die
Buchläden werden
schon zum Reich-Ranicki-Erlebnispark
umfunktioniert. Durch
die Kuschelecken,
wo bisher Popliteraten
ungezogen sein durften,
peitscht ein scharfer
Wind. [...] Und dennoch: Trotz seiner messbaren Marktmacht wird der Zuchtmeister keine Monokultur anpflanzen können. Seine Diktatur des Überschaubaren ist immer noch viel zu anstrengend. Der Kanoniker will seine Gläubigen tatsächlich dazu verdonnern, die ausgewählten Bücher nicht nur zu kaufen, sondern auch zu lesen! Die ganzen "Buddenbrooks"! Den kompletten "Faust I"! Alles vom "Alexanderplatz"! Als ob nicht eine fünfzeilige Inhaltsangabe, eine Liste der Personen, eine Gewinn-und-Verlust-Bilanz (Geburten, Hochzeiten, Todesfälle, Scheidungen) sowie drei knackige Zitate genügten! "Mein
lieber Freund",
zürnt da ein imaginärer
Marcel Reich-Ranicki,
"Sie verstehen
von Literatur rrrrein
gar nichts. Das ganze
Leben ist kein Quiz.
Mir geht es um Herrrzensbildung." [...] Berliner-Zeitung, 23.05.2002 (Harald Jähner) Jetzt
braucht es immerhin
zwanzig Bücher, um
sich komplett zivilisiert
zu fühlen. Ohne dieses
Ding, ohne den Literaturkanon,
wäre "eine zivilisierte
Gesellschaft unvorstellbar",
schreibt Marcel Reich-Ranicki,
ohne Kanon wäre der
"Rückfall in
Beliebigkeit und
Willkür und schließlich
in Barbarei"
vorprogrammiert.
Als spräche aus dem
Bestücken dieses
Nationalkartons neben
dem Marketing-Gedanken
irgendetwas Anderes
als Willkür und Beliebigkeit.
So kommt statt Musils "Mann ohne Eigenschaften", statt des Romans also, der seinen Autor bis heute berühmt machte, sein schwächerer "Zögling Törleß" in den Kasten, und zwar 1., weil Reich-Ranicki keine langen Romane mag, und 2., weil das Werk auch das Maß des Kastens sprengen würde. Bestünde der Kanon der deutschen Literatur wirklich nur aus diesen zwanzig Titeln, es stünde schlecht um uns. Sinnvoll ist ein Kanon als eine Summe von vielen Stimmen, als ein Wechselgespräch über Generationen hinweg, nicht als Willkürurteil. Ein echter Kanon müsste mindestens das Zehnfache dessen umfassen, auf das sich Reich-Ranicki auch aus Gründen der Werbewirksamkeit beschränkt hat. In Wahrheit und zum Glück sind weit mehr Romane verbindlich und lebendig geblieben, als man mit einem Griff aus dem Buchladen heraustragen kann. Am vermeintlichen Bildungsnotstand dagegen sind fast immer die kleinen Kartons der Schulmeister schuld. Gegenvorschläge
und andere Kanon-Listen
im Netz
http://www.zeit.de/schwerpunkte/literatur/schuelerbibliothek Eine
Sammlung von Kanon-Listen
findet sich auf der
Seite http://www.lesekost.de/Kanon/HHL04.htm
Mitarbeit: Karoline Leibfried, Alexandra Rhiel Letzte Änderung: 24.8.2014 |
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