Judentum

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Ende Oktober 1958, so erzählt Marcel Reich-Ranicki im ersten Kapitel von "Mein Leben", fragte ihn Günter Grass während einer Tagung der "Gruppe 47": "Was sind Sie denn nun eigentlich - ein Pole, ein Deutscher oder wie?" Reich-Ranicki antwortete: "Ich bin ein halber Pole, ein halber Deutscher und ein ganzer Jude." Die Autobiographie widerruft dieses Bonmont. An der Antwort stimme kein Wort.

Der Vater David Reich war in Polen geboren und Sohn eines erfolgreichen jüdischen Kaufmanns. An hohen Feiertagen und am Sabbat besuchte er regelmäßig die Synagoge. Reich-Ranickis Autobiographie lässt in ihrer Distanz zum Vater und in der Identifikation mit der ihn maßgeblich prägenden Mutter an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Seine eigene Identität definiert der Autor über die Beschreibung der Mutter.Sie war Deutsche und durch die Ehe nach Polen gleichsam verbannt worden. Ihr Vater war zwar wie schon seine männlichen Vorfahren Rabbiner, doch von den fünf Söhnen folgte ihm darin nur noch der älteste. Den anderen war wie auch der Schwester die jüdische Religion fremd geworden. Der Familientradition blieben sie nur insofern verbunden, als viele Rabbiner unter ihren Vorfahren sich wissenschaftlich mit juristischen Problemen befassten und auch als Richter fungierten. Vier Brüder der Mutter wurden Anwälte. Mit der juristischen Metapher des "Anwaltes" charakterisierte Reich-Ranicki wiederholt seine eigene Position des Literaturkritikers.

Bei aller bekennnend atheistischen Distanz zur jüdischen Religion und oft scharfer Kritik an religiös geprägten Konventionen sieht Reich-Ranicki sich säkularisierten Formen jüdischer Kulturtraditionen nach wie vor verbunden. An die Stelle religiöser Schriften ist die Literatur getreten, vor allem die deutsche. Sie erhielt für ihn existentielle Bedeutung. Seine Antwort auf die Frage, ob es für ihn so etwas wie ein Zuhause gebe, schloss er in einem Gespräch mit Joachim Fest: "Von Heine stammt das schöne Wort, die Juden hätten sich im Exil aus der Bibel ihr portatives Vaterland gemacht. Und so bin auch ich schließlich weder ein heimatloser noch ein vaterlandsloser Mensch. Auch ich habe ein portatives Vaterland - es ist die deutsche Literatur, die deutsche Musik."

Dass Reich-Ranicki sich als Jude begriff und dass er sich zeitlebens mit Problemen des Judentums auseinander setzte, dafür sorgten andere. Im Gegensatz zur Frage nach der Existenz eines Gottes ließ ihn die nach der Existenz der Juden nie los. Und die Distanz zur jüdischen Religion, die sich zu offenen Aversionen gegenüber religiösen Praktiken und Erscheinungsformen orthodoxen Judentums steigern konnte, hinderte ihn nicht daran, sich immer wieder entschieden gegen jede Form des Antisemitismus zu wehren und sich für jüdische Institutionen zu engagieren.

In seiner auch für literaturwissenschaftliche Forschungen wegweisenden Essaysammlung „Über Ruhestörer“ (zuerst 1973) zitiert Reich-Ranicki eine erhellende Bemerkung Jean-Paul Sartres: Der Jude befinde „sich in der Situation des Juden, weil er inmitten einer Gesellschaft lebt, die ihn als Juden betrachtet.“ Der „Jude“ ist ein soziales und kulturelles Konstrukt, eine gesellschaftlich hergestellte Fiktion und Zuschreibung – mit freilich oft höchst realen und furchtbaren Folgen. Die Einsicht geht mit der Beobachtung einher, dass man es, wie Reich-Ranicki formuliert, „mit einem Phänomen zu tun hat, das mit den üblichen Kategorien – den religiösen, nationalen, sprachlichen, ethnischen oder rassischen – nicht hinreichend erklärt und abgegrenzt werden kann.“

In allen Aufsätzen dieses Buches mit dem Untertitel „Juden in der deutschen Literatur“ schreibt Reich-Ranicki, vielleicht noch mehr als sonst, über sich selbst. Einer aus dem Jahr 1970 trägt den Titel „Im magischen Judenkreis“. Er ist einer Äußerung Ludwig Börnes entnommen, der 1832 konstatierte: „Es ist wie ein Wunder! Tausend Male habe ich es erfahren, und doch bleibt es mir ewig neu. Die einen werfen mir vor, daß ich ein Jude sei; die Anderen verzeihen es mir; der Dritte lobt mich gar dafür; aber alle denken daran. Sie sind wie gebannt in diesem magischen Judenkreise, es kann keiner hinaus.“ Ob Reich-Ranicki über sich oder ein anderer über ihn schreibt, keiner kommt aus diesem magischen Kreis heraus. Der Befangenheit in der Beziehung zwischen Juden und Nichtjuden konnte und kann, zumal in Deutschland, niemand entgehen. Die Schwierigkeiten im Umgang mit dem Thema hat Reich-Ranicki klar benannt, ohne vor ihnen zu resignieren. Angemessener als philosemitische Beteuerungen und erbauliche Appelle an brüderliche Gemeinsamkeiten seien sachliche Beiträge zur historischen Aufklärung über die Beziehung zwischen Juden und Deutschen.

Das eigene Buch „Über Ruhestörer“ besteht selbst aus solchen Beiträgen. Der Untertitel „Juden in der deutschen Literatur“ ist identisch mit dem Titel eines 1922 erschienenen Sammelwerkes. Der Herausgeber Gustav Krojanker wies hier auf die Problematik eines solchen Buches hin. Reich-Ranicki zitiert ihn: „Denn es scheint in diesem Deutschland fast nicht anders denkbar, daß die Geschäfte einer finsteren Reaktion betreibt, wer das Wesen des Juden als ein unterschiedliches überhaupt zu betrachten wagt.“ Reich-Ranicki schreibt zwar nicht mehr vom „Wesen des Juden“, wagt es aber doch, die Werke und Lebensgeschichten prominenter Autoren jüdischer Herkunft nach ihren eigentümlichen Gemeinsamkeiten zu befragen. Und für alle Antworten, die er formuliert, für alles, was er an Autoren wie Rahel Varnhagen, Heinrich Heine, Ludwig Börne, Arthur Schnitzler, Peter Weiss, Erich Fried oder Jurek Becker beobachtet, gilt der Satz aus seiner enthusiastischen Würdigung von Hans Mayers Buch „Außenseiter“: „Diese Darstellung der Literatur, diese passionierte Auseinandersetzung mit ihren wirklichen und erfundenen Figuren ist unentwegt, bewußt oder unbewußt, auch Selbstdarstellung und Selbstauseinandersetzung.“ Schon mit der Buchüberschrift „Über Ruhestörer“ oder mit dem Aufsatztitel „Außenseiter und Provokateure“ charakterisiert Reich-Ranicki sich selbst. Seitenweise ließen sich aus dem Buch, das darin den gesammelten Aufsätzen über Kritiker in „Anwälte der Literatur“ gleicht, Passagen zitieren, die Bilder von einer Persönlichkeit entwerfen, die dem Bild gleichen, das Reich-Ranicki von sich selbst hat oder auch andere von seiner Person entworfen haben.

Man mag das als narzisstische Selbstbespiegelung bewerten. Doch ist die Selbstbezogenheit von Reich-Ranickis Schreiben über andere immer auch eine Form existenzieller Anteilnahme an dem, worüber er sich äußert. Keiner seiner Artikel kennt distanzierte oder auch nur gelassene Gleichgültigkeit gegenüber dem gewählten Thema. Liebe oder Wut ist ihnen eingeschrieben und oft auch Sympathie im wörtlichen Sinn: ein Mit-Leiden, eine Identifikation mit dem, was andere an Leid erfahren und ausgedrückt haben.

Das Buch „Über Ruhestörer“ berichtet zu weiten Teilen über Leidensgeschichten, über Geschichten des „Leidens am Judentum“. Der 1995 gehaltene Vortrag „Die verkehrte Krone oder Juden in der deutschen Literatur“, der die Auseinandersetzung mit dem Thema fortsetzt, spricht von einer „Passionsgeschichte“. Das Gemeinsame an diesem Leiden beschreibt Reich-Ranicki als das Gefühl, nicht normal, nicht in die soziale Umwelt integriert zu sein, als Konfrontation mit der Befangenheit anderer, einer Befangenheit, die zu Missachtung, Diskriminierung oder Hass werden konnte. Selbst größte kulturelle Erfolge konnten den Juden dieses Leiden nicht nehmen. „Es ist zum Verzweifeln“, so zitiert er einen der erfolgreichsten Schriftsteller der 19. Jahrhunderts, Berthold Auerbach, mit einer Äußerung aus dem Jahre 1880, als der Berliner Antisemitismusstreit ausgetragen wurde. „In den Freiesten steckt ein Hochmut und ein Widerwille gegen die Juden, der nur auf Gelegenheit wartet, um zu Tag zu kommen.“

Die Geschichte der deutsch-jüdischen Schriftsteller seit dem 19. Jahrhundert beschreibt Reich-Ranicki als eine Geschichte des Glanzes und des Elends, als Kette von „Triumphen und Niederlagen ihres persönlichen Kampfes um Anerkennung“. Bloß formal anerkannt, blieben Juden im 19. Jahrhundert real diskriminiert. Viele versuchten „durch außergewöhnliche geistige und künstlerische Leistungen Ansehen zu erlangen und auf diese Weise die tatsächliche Emanzipation zu erzwingen.“ Das Begehren, integriert oder gar geliebt zu sein, und die Aussichtslosigkeit dieses Begehrens sind seit Moses Mendelssohn und Rahel Varnhagen und seit der Liebeslyrik Heines die zentralen Themen jener Autoren, die unter ihrem Judentum gelitten haben. Und es gab kaum einen Autor, der darunter nicht gelitten hätte. Fremdheit und Außenseitertum jüdischer Autoren gehörten zu den Voraussetzungen ihrer Leistung und Kreativität – Voraussetzungen, auf die sie selbst gerne verzichtet hätten.

TA

Mehr zu dem Thema enthält Thomas Anz: Marcel Reich-Ranicki. München: dtv 2004 (dtv portrait). Hier das Kapitel "Judentum und Religion", S. 26-34.


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Zionismus

In Marcel Reich-Ranickis Autobiographie »Mein Leben« umfasst die Beschäftigung mit dem Thema Zionismus gut drei Seiten. Sie sind gekennzeichnet von dem um Anschaulichkeit bemühten Stil und dem pädagogischen Impetus eines Autors, der zur Freude der breiten Öffentlichkeit eine klare Sprache und eindeutige Wertungen bevorzugt. Der Passus ist zugleich exemplarisch für die literarisch-biographische Dokumentation des Zionismus in Deutschland, die erst im Zuge der späten Lebenserinnerungen der Überlebenden einsetzt, beginnend mit deren Publikation in den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Shoah und Zionismus sind in diesen Texten zu den beiden Grunderfahrungen jüdischer Existenz im 20. Jahrhundert assoziiert. Inzwischen sind sie gar kanonisiert als verbindlicher Kernbestand dessen, was als (deutsch-)jüdische Literatur gilt (etwa im "Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur", hg. v. Andreas Kilcher, vgl. S. XVIIf.).

Das Wissen des Autobiographen Reich-Ranicki und dessen Deutung von Judenverfolgung und Shoah liegen auf den nachträglichen Schilderungen wie eine Patina. Sie überträgt die heutigen Bedingungen des Berichtens auf das zu Berichtende und macht, was naive Beschreibung von Lebensgeschichte sein könnte, zum sentimentalischen Konstrukt. In ihm nimmt Zionismus keinen selbstverständlichen Platz ein, sondern bekommt seine Bedeutung ex post zugewiesen. Die Rekonstruktionen früherer Haltungen sind bei Reich-Ranicki wie bei anderen Autoren nachträgliche Konstruktionen, oft mühsam formuliert und gesucht wirkende Antworten auf eine Frage, die sich für viele deutsch-jüdische Schriftsteller damals gar nicht stellte, deren bedrängender, nach Rechtfertigung verlangender Insistenz sich die Auskunftgebenden jetzt allerdings ausgesetzt sehen oder ausgesetzt zu sehen glauben, der Frage nämlich, warum sie keine Zionisten waren.

Aus diesem Impetus heraus, aus der Position eines, der sich zur Rechenschaft verpflichtet glaubt, schreibt auch Reich-Ranicki. »Von heute her gesehen, ist es zumindest verwunderlich«, beginnt sein Bericht, indem er sich auf Augenhöhe des zeitgenössischen Lesers begibt,

von heute her gesehen, ist es zumindest verwunderlich, dass die Zahl der Juden, die Deutschland verließen, mit den Jahren trotz der systematischen Verfolgung, trotz einer so ungeheuerlichen Maßnahme, wie die Nürnberger Gesetze im September 1935 waren, keineswegs zunahm.(Mein Leben, 62)

»Was die überwiegende Mehrheit der Juden jahrelang davon abhielt, auszuwandern«, expliziert der Autor umgehend, »war nichts anderes als der Glaube an Deutschland« (Mein Leben, 62) - ein abstrakt klingender, zugleich national- wie individualpsychischer Beweggrund, den Reich-Ranicki am Beispiel seiner eigenen Haltung zur zionistischen Bewegung erklärt.

Man beachte: Als erklärungsbedürftig gilt nicht die Emigration, sondern deren geringer Umfang, nicht das Fortgehen, sondern das Bleiben. Vor diesem Hintergrund erläutert Reich-Ranicki sein Verhältnis zur deutschen Kultur als Geschichte eines Nicht-Verhältnisses zur zionistischen Bewegung. Deren Bekanntschaft machte er in Gestalt einer zionistischen Jugendorganisation, des Jüdischen Pfadfinderbund Deutschlands. Der damals Fünfzehnjährige, der sich, nachdem Freundschaften zwischen jüdischen und nichtjüdischen Schülern allmählich aufgehört hatten, umso einsamer fühlte, suchte dort Anschluss. »Das war,« so interpretiert der Autor, »ein Mißverständnis« (Mein Leben, 63). Eingebettet in Liedgut, Wanderbegeisterung und Landschaftserfahrung romantisch-jugendbewegter deutscher Tradition findet die Begegnung des jungen Reich-Ranicki mit dem Vater des politischen Zionismus statt, jenem

originellen Intellektuellen, dessen Schriften und Tagebücher ich sogleich las und für den ich noch heute, ganz unabhängig vom Ideologischen und Politischen, sehr viel Sympathie habe. Ich meine jenen österreichischen Juden, dem etwas Unerhörtes gelungen ist - nämlich mit einem Roman zur Weltveränderung beizutragen.

Er, Theodor Herzl, war zunächst nichts anderes als ein typischer, wenn auch ungewöhnlich intelligenter Wiener Kaffeehausliterat, ein guter Feuilletonist und ein Autor mäßiger Lustspiele, die aber immerhin am Burgtheater aufgeführt wurden. Mit dem Judentum hatte er wenig, mit der jüdischen Religion nichts gemein. Erst der Pariser Dreyfus-Prozeß im Jahre 1894, an dem er als Berichterstatter teilnahm, hatte seinen Wandel bewirkt: Herzl wurde ein Staatsmann, wenn auch ohne Staat, und ein Prophet, dessen Utopie Wirklichkeit geworden ist. Literat, der er war, wählte er für seine Vision des Staates Israel die Form eines Romans: Er erschien 1902 unter dem Titel "Altneuland".

Geradezu paradox mutet das an: Der neuzeitliche Staat der Juden - das war erst einmal ein Stück deutscher Literatur, ein zwar künstlerisch unerheblicher, doch wahrlich folgenreicher. Natürlich habe ich das damals nicht gewußt und auch nicht geahnt. Imponiert hat mir wohl vor allem der Literat mit der großartigen Phantasie, der assimilierte deutschsprachige Jude mit seiner ungewöhnlichen Kühnheit und seinem grandiosen Organisationstalent.

Aber weder die Mark Brandenburg noch die Lieder der Wandervogelbewegung, weder Theodor Herzl noch die Vision des Staates Israel konnten bewirken, dass ich mich in diesem Jugendbund heimisch fühlte. […] Gleichwohl gab es in jener Zeit einen Abend, der mich begeisterte und aufrüttelte und darüber nachdenken ließ, ob mein Platz denn nicht doch in dieser Organisation sei. (Mein Leben, 64f.)

Es ist der Abend, an dem der Führer der jüdisch-zionistischen Jugendgruppe, in einen langen Militärmantel aus dem Ersten Weltkrieg gehüllt, im abgedunkelten Versammlungsraum aus der Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke rezitiert: »Reiten, reiten, reiten, durch den Tag, durch die Nacht, durch den Tag. Reiten, reiten, reiten. Und der Mut ist so müde geworden und die Sehnsucht so groß.« (Mein Leben, 65)

Die Fixierung des jungen Reich-Ranicki auf Literarisches, die zu nicht geringen Teilen wohl auch als Selbststilisierung des heutigen Literaturkritikers zu lesen ist, lässt ihn in Herzl vor allem den Autor, im Judenstaat ein primär fiktionales Produkt (und Projekt) schöner Literatur sehen. Um so rätselhafter ist es, dass der sonst qua Literatur so leicht Entflammbare angesichts von Herzls Werk kein Feuer fängt. Das literar- und geschichtskritische Urteil »künstlerisch unerheblich - wahrlich folgenreich« markiert der Autor selbst als nachträglich. So bleibt der Ort der Begründung eine Leerstelle; scheint doch, so legt die Aufzählung nahe, vieles, wenn auch einiges eher Befremdliche wie die Cornet-Episode für ein Engagement, wenigstens aber ein Verbleiben im zionistischen Jugendbund zu sprechen. Doch, so rhetorisiert der Autor das Fazit seiner Erfahrung:

weder die Mark Brandenburg noch die Lieder der Wandervogelbewegung, weder Theodor Herzl noch die Vision des Staates Israel konnten bewirken, daß ich mich in diesem Jugendbund heimisch fühlte.

Warum weder die Teilhabe an der Kultur der deutscher Jugendbewegung noch das Vorbild eines »assimilierten deutschsprachigen Juden mit seiner ungewöhnlichen Kühnheit und seinem Organisationstalent«, der als »Literat mit der großartigen Phantasie« die Vision eines Staates Israel schöpft, Reich-Ranicki zum Verbleib im zionistischen Jugendbund bewegen können, bleibt offen. Herzls Vision, so darf man mutmaßen, hätte Reich-Ranicki eigentlich gefallen müssen, so hoch ist der Stellenwert von europäischer, genauer habsburgisch-deutscher Kultur in dem von Herzl projektierten »Altneuland«, wo v.a. Literatur, Theater und Oper zu ihrem Recht kommen sollen: Als »Circenses baldigst« formuliert Herzl schon 1895 in seinem »Zionistischen Tagebuch«: »›Deutsches Theater‹ ›internationales Theater‹ ›Oper‹ ›Operette‹ ›Circus‹ ›Caffee Concert‹ ›Caffee ‚Champs Elysée‹«. (Theodor Herzl: Briefe und Tagebücher, Bd. II, Zionistisches Tagebuch 1895-1899, bearb. V. Johannes Wachten, Chaya Harel i. Zsarb. M. Daisy Ticho, Sofia Gelman, Ines Rubin, Manfred Winkler, Berlin/Frankfurt a. M./Wien 1983, 76)

Die nachgeschobene Erklärung »Meine große Leidenschaft, die Literatur schien hier nicht gefragt« (Mein Leben, 65), steht in geradezu augenscheinlichem Widerspruch zum zuvor Berichteten. Der junge Reich-Ranicki will, so beendet er das kurze zionistische Kapitel seiner Biographie, lebensgeschichtlich wie erzählerisch, »den Jüdischen Pfadfinderbund rasch wieder verlassen«. »Letztlich«, resümiert er, »war ich dort fehl am Platze.« (Mein Leben, 67) Ob dieser Schluss durch die Ausführungen plausibel wird, sei dahingestellt. Bemerkenswert erscheint die Tatsache, dass der Autor sich um eine solche Plausibilisierung bemüht, sich bemühen zu müssen meint, vielleicht weil er zurecht annimmt, »von heute her gesehen« sei es »zumindest verwunderlich« und damit erklärungsbedürftig, dass er im Zionismus kein ideologisches und reales Mittel gesehen habe, Deutschland den Rücken zu kehren, ideologisch und real. Das narrative und argumentative Muster, das die Autobiographie dem zionistischen Zwischenspiel im Leben des Helden unterlegt, hat exemplarischen Charakter. Doch ist es signifikanter für die Zeit, zu der »Mein Leben« erscheint, als für jene, die es erzählt.

Alexandra Pontzen

(Der Text ist ein leicht veränderter Auszug aus: A.P.: "Von heute her gesehen, ist es zumindest verwunderlich..." Der Blick auf den literarischen Zionismus durch das Perspektiv der Shoah. In: Susanne Düwell / Matthias Schmidt (Hg.): Narrative der Shoah. Repräsentation der Vergangenheit in Historiographie, Kunst und Politik. Paderborn 2002. S. 243-261.)


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Zitate

Und warum bin ich auch kein ganzer Jude? Einer jüdischen Maxime zufolge kann ein Jude nur mit oder gegen, doch nicht ohne Gott leben. Ich habe nie mit Gott gelebt und auch nie gegen Gott. Die Rebellion des Prometheus - "Ich dich ehren? Wofür?" - ist mir vollkommen fremd. In meiner Jugend schon hat mich eine Bemerkung Lichtenbergs beeindruckt, der Satz, Gott habe den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen, bedeute in Wirklichkeit, der Mensch habe Gott nach seinem Ebenbild geschaffen. Diese Einsicht hat es mir leicht gemacht, ohne Gott zu leben. Dazu hat auch meine Mutter beigetragen, deren Vorfahren alle Rabbiner waren, die aber dennoch - oder vielleicht eben deshalb - von der Religion nichts wissen wollte.
Was ich der jüdischen Religion vorzuwerfen habe, läßt sich kurz sagen: vor allem ihre Intoleranz und die Weigerung oder die Unfähigkeit, längst sinnlos gewordene religiöse Vorschriften zu reformieren. Doch weiß ich auch, daß es keine Religion gibt, die das Wort und die Schrift höher schätzt als die mosaische. (Über das eigene Land. In: Vom Tag gefordert, S. 179)

Reich-Ranicki in einem Interview mit der Zeitung "Die Welt" über sein Verhältnis zum Judentum:

DIE WELT: Warum glauben Sie nicht an Gott? Hat Ihnen der Holocaust den Glauben genommen?

Reich-Ranicki: Das hat damit nichts zu tun. Ich war nie Mitglied der jüdischen Gemeinde. Ich war seit 1934, dem Jahr meiner Konfirmation, nie - mit einer unwichtigen Ausnahme - in der Synagoge. Mir war das schon als Kind unbegreiflich, dass jemand einen gedruckten Text liest und das für ein Gebet, ein Gespräch mit Gott hält. Ich habe diese Texte im Gebetbuch sehr wohl gelesen. Sie haben mich nicht beeindruckt und sehr enttäuscht, ich hielt sie für indiskutabel. "Gelobt sei der Ewige, der Ewige ist einzig, gepriesen sei der Name des Ewigen, denn Er ist einzig, gelobt sei Gott." Und immer wieder ein und dasselbe. Was soll das? Und warum soll er gepriesen werden? Von Gott habe ich am wenigsten Hilfe während der Shoah erwartet und gespürt.

DIE WELT: Also war das Judentum für Sie nur eine Schicksalsgemeinschaft?

Reich-Ranicki: Zunächst einmal ja. Mich hat ja niemand gefragt, ob ich Jude sein wollte. Man wird hineingeboren und muss sich damit abfinden. Hinzu kommt das Bewusstsein, dass ich von deutschsprachigen Juden sehr viel gelernt habe. Es ist also auch eine Art Kulturgemeinschaft.

DIE WELT: Welche Juden meinen Sie?

Reich-Ranicki: Heine und Börne, Schnitzler und Döblin, Freud und Kafka, Kerr, Karl Kraus, Polgar und Tucholsky, Mahler, Schönberg und Kurt Weill. Reicht das?

Aus: "Wir waren zusammen in der Hölle - und im Himmel" Ein Interview mit Marcel Reich-Ranicki und seiner Frau Tosia. In: Die Welt, 18. 09. 1999,


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Literaturhinweise

Marcel Reich-Ranicki: Über das eigene Land. [Rede, gehalten am 13. November 1994 in den Münchner Kammerspielen] In: M. R-R.: Vom Tage gefordert. Reden in deutschen Angelegenheiten. Stuttgart, München: DVA 2001. S. 154-180.

Marcel Reich-Ranicki: Die verkehrte Krone [Vortrag, gehalten am 12. Januar 1995 an der Universität Heidelberg]. In: M. R-R.: Vom Tage gefordert. Reden in deutschen Angelegenheiten. Stuttgart, München: DVA 2001. S. 56-78.

Marcel Reich-Ranicki: Über Ruhestörer. Juden in der deutschen Literatur. München:
dtv 1993.

Zeugen des Jahrhunderts. Zwischen Diktatur und Literatur. Gespräch mit Joachim Fest. Frankfurt am Main: Fischer Tb. Verlag 1993.

Gespräch mit Herlinde Koelbl ("Jüdische Portraits", 1989). In: Peter Wapnewski (Hg.): Betrifft Literatur. Über Marcel Reich-Ranicki. Stuttgart: DVA 1990 (dtv 1995). S. 190-225.

Thomas Anz: Marcel Reich-Ranicki. München: dtv 2004 (dtv portrait). Hier das Kapitel "Judentum und Religion", S. 26-34.

Letzte Bearbeitung: 24.8.14

 

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