Freunde und Feinde

P.v.M: Haben Sie Feinde?
M.R.-R.: Sehr viele. Das gehört zu meinem Beruf.
(Der doppelte Boden, S. 5)

Viel Feind, viel Ehr? Ach, weniger Ehre und weniger Feinde - es wäre mir mit Sicherheit lieber gewesen. Nur habe ich immer, ob ich es wollte oder nicht, die Menschen rings um mich und wohl auch alle meine Leser unentwegt polarisiert. (Vom Tag gefordert, S. 185)

Reich-Ranickis Leben und seine literaturkritische Tätigkeit sind geprägt durch zahlreiche Freundschaften und Feindschaften. Soweit sie im Medium publizistischer und literarischer Texte zu einer öffentlichen Angelegenheit wurden und nicht nur von privater Bedeutung sind, folgen Informationen und Dokumente dazu, die laufend ergänzt werden. Es geht dabei u.a. um:

- Wolf Biermann, Günter Grass, Joachim Fest, Ulla Hahn, Peter Handke, Siegfried Lenz, Peter Rühmkorf, Sigrid Löffler, Walter Jens, Martin Walser

- den Streit um Reich-Ranickis Tätigkeit für den polnischen Geheimdienst,

- Pro und Contra: der Kritiker in der Kritik.

 

Martin Walser

Mit Autoren wie Günter Grass oder Martin Walser stand Reich-Ranicki sein Kritikerleben lang in einem ständigen, spannungsreichen Dialog. Und über die Beziehung zwischen Kritikern und Autoren hat er sich nicht eben selten geäußert. Dass er insgeheim gelegentlich durchaus hoffte, Autoren mit seiner Kritik zu beeinflussen, sie also zu erziehen, hat er nicht verheimlicht. Dass daraus zuweilen sogar ein literarisches Meisterwerk erwachsen könne, sei zwar eine Illusion, aber ohne diese Illusion würde mancher Kritiker seinen Beruf nicht weiter ausüben können. Reich-Ranicki bekannte sich dazu, als 1978 Martin Walsers Novelle „Ein fliehendes Pferd“ erschien, und formulierte vorsichtig seine Genugtuung darüber, dass es ihm mit seinem zwei Jahre zuvor erschienenen Verriss des „miserablen“ Romans „Jenseits der Liebe“ gelungen sei, zu Walsers „reifstem, schönstem und bestem Buch“ beigetragen zu haben.

Im Zusammenhang mit Walser verglich er seine Rolle als Kritiker später auch mit der eines Arztes. Was er in einer Laudatio auf Walser 1981 über dessen Rezensenten sagte, bezog sich vor allem auf die eigene Person: „Gewiß, oft wurde er hart und unbarmherzig behandelt [...], aber nie ließ die Aufmerksamkeit der Kritik nach, keine seiner Niederlagen blieb unbeachtet. Ja, die seine Arbeiten begutachteten, erinnerten bisweilen an geduldige, fürsorgliche Ärzte, die sich um das Bett eines Patienten scharen – und schon ihren Blicken ließ sich ablesen, daß es sich leider um einen höchst bedenklichen Fall handelt, der aber außerordentlich bemerkenswert ist und keineswegs hoffnungslos erscheint.“ Eine negative Kritik wird in dieser medizinischen Bildlichkeit zur „bitteren Pille des Tadels“.

Walser hat sich in etlichen literarischen Texten mit Reich-Ranicki auseinandergesetzt, doch nie so wütend wie in dem 2002 Roman "Tod eines Kritikers". Noch vor seiner Veröffentlichung sorgte er für einen Skandal. Der Autor hatte ihn prognostiziert und bei seiner Inszenierung selbst kräftig mitgewirkt. Ein Starkritiker verschwindet; unter Mordverdacht steht jener Autor, dessen Werk er am Abend zuvor im Fernsehen disqualifiziert hatte. André Ehrl-König, so der schon in dem Roman „Ohne einander“ erfundene Name des Großkritikers, in dessen Armen, so suggeriert er, die Autoren zugrunde gehen wie das Kind in Goethes Ballade, ist wie sein reales Vorbild Reich-Ranicki Jude. Ob die in der Sprache des Hasses geschriebene Darstellung dieses so macht- wie sexbesessen Monsters antisemitische Klischees bedient, darüber ist heftig debattiert und viel geschrieben worden. Der Roman ist zu gewitzt und geschickt konstruiert, als dass er es zuließe, dem Autor Antisemitismus zu unterstellen. Der Mord, so erweist sich am Ende des Romans, hat gar nicht stattgefunden, doch die Wut, mit der hier die Person des Kritikers im Medium diverser Romanfiguren denunziert wird, hat alle Qualitäten eines Rufmordes.

Neben den angstbesetzten oder wütenden Bildern, Phantasien und Ansichten, die von Schriftstellern über Reich-Ranicki verbreitet wurden, stehen viele respektvolle, dankbare, freundliche und zuweilen auch freundschaftliche und sympathievolle. Die Figur „Zweifel“ in Grass' „Tagebuch einer Schnecke“ gehört dazu. „In einem seiner schönsten Prosastücke“, so Reich-Ranicki über Martin Walsers Erzählung „Selbstportrait als Kriminalroman“, hat der Schriftsteller sich selbst als einen Verbrecher und seinen Kritiker als Kommissar dargestellt. Der Verbrecher leidet unter dem Kommissar, doch noch mehr leidet er unter der Möglichkeit, der Kommissar könnte ihn mangels Interesse nicht mehr verfolgen.

TA

Zur Debatte über die angeblich antisemitische Darstellung Reich-Ranickis in Martin Walsers Schlüsselroman "Der Tod eines Kritikers" siehe die Beiträge in literaturkritik.de 2002, Nr. 6 (Juni):

Viel Lärm um Wenig. Anmerkungen zum Streit um Walsers Roman "Tod eines Kritikers" / Von Thomas Anz

Hass eines Autors. Zu Martin Walsers gefährlichem Buch "Tod eines Kritikers" / Von Kai Köhler

"Herr Reich-Ranicki, in unserem Verhältnis bin ich der Jude". Martin Walsers "Tod eines Kritikers" und das Antisemitismus-Spiel in den deutschen Feuilletons / Von Axel Schmitt

Günter Grass

Zu dem weltweit wohl bekanntesten der noch lebenden deutschen Autoren, dem Nobelpreisträger Günter Grass, hat Marcel Reich-Ranicki schon seit langer Zeit ein problematisches Verhältnis. Das erste Zusammentreffen der beiden in Warschau, im Mai 1958, schildert der Kritiker in seiner Autobiografie "Mein Leben" als einen langweiligen und uninteressanten Nachmittag, an dem er sich mit einem unseriös wirkenden, schmuddeligen Mann zu beschäftigen hatte, dessen Beschreibung an die eines Alkoholikers erinnert. Dieser erzählte zu allem Überfluss auch noch von einem Roman, den er gerade in Arbeit hatte und der sich um einen buckeligen Zwerg in einer Irrenanstalt drehte. Reich-Ranicki wollte von diesem Werk nichts weiter hören und hielt ihn (wie auch seinen Verfasser) vorab für gescheitert. Das Werk, von dem die Rede war, "Die Blechtrommel", machte den Autor weltberühmt und verschaffte ihm Jahrzehnte später den Literaturnobelpreis.

Im Oktober 1958 sahen sich beide auf einer Tagung der Gruppe 47 wieder, wo der Autor zwei Kapitel aus seiner "Blechtrommel" vorlas, die diesmal aber das Gefallen des Kritikers fanden. Hier wurde der Grundstein der jahrelangen, zunächst respektvollen, Korrespondenz zwischen dem Autor und dem Literaturkritiker gelegt. Hin und wieder trafen sie sich sogar zum Essen und einem gemeinsamen Glas Wein. Doch je einflussreicher Reich-Ranicki im literarischen Leben wurde, um so schwieriger gestaltete sich die Bekanntschaft. So sehr er einige frühe Arbeiten von Grass schätzte und lobte (vor allem "Katz und Maus" und "Das Treffen in Telgte"), so vehement kritisierte er die späteren Werke (z.B. "Hundejahre", "Die Rättin" und "Der Butt").

Zum gänzlichen Bruch in der Beziehung kam es 1995, als der "Literaturpapst" den 1994 erschienenen Roman "Ein weites Feld" im Spiegel verriss. In der Form eines offenen Briefes an den Autor lässt die Rezension an dem Werk kein gutes Haar. Noch die letzten Sätze des Briefes, die ein freundliches Lob und einen herzlichen Gruß enthalten, sind in Wahrheit vernichtend: "Sie schildern ein Treffen mit Uwe Johnson. Sie schildern es wunderbar. Das kann keiner besser als Sie. Aber es sind nur fünf Seiten von 781. Es grüßt Sie in alter Herzlichkeit Ihr Marcel Reich-Ranicki."

Günter Grass zeigte sich nicht nur über die Rezension, sondern auch über das Titelbild der Spiegel-Ausgabe empört: Es zeigt Marcel Reich-Ranicki, wie er den Roman in zwei Hälften zerreißt. Seit diesem Streit hat der Schriftsteller mit Reich-Ranicki angeblich kein persönliches Gespräch mehr geführt. Als Grass 1999 den Nobelpreis erhielt, fand der Literaturkritiker wenig anerkennende Worte: "Nach so vielen Jahren musste endlich ein deutschsprachiger Schriftsteller wieder den Nobelpreis erhalten... Stellen Sie sich vor: Martin Walser wäre der Preis zugefallen, das wäre ein schwerer Schlag für mich. Oder gar dem dümmlichen Peter Handke! Eine Katastrophe. In Stockholm ist allerlei möglich. Grass - immerhin!" (Der Spiegel, 4. Oktober 1999). Wenige Tage später erwiderte Grass (Die Woche, 7. Oktober 1999), dass er zwar Jahrzehnte unter diesem Mann habe leiden müssen, aber trotzdem immer ein vergnügliches Verhältnis zu ihm hatte, da er Reich-Ranicki nicht überschätze, wie das viele tun. Die beste Zeit habe der Kritikers noch in der Gruppe 47 gehabt. Durch die Macht der Medien, insbesondere des Fernsehens, sei er dann größenwahnsinnig geworden.

Die Kette dieses Schlagabtauschs ging immer weiter. Die Kommunikation zwischen beiden fand nur noch über die Medien statt, die auch noch belangloseste Äußerungen zu einer "Nachricht" machten. Umso spektakulärer war das hohe Lob, das Reich-Ranicki 2002 in seiner "Solo"-Sendung der Novelle "Im Krebsgang" zukommen ließ. Doch Günter Grass widerlegte die wiederholt vertretene These des Literaturkritikers, die Meinung eines Schriftstellers über einen Kritiker entspreche stets der Meinung des Kritikers über dessen letztes Buch. Grass zeigte sich unversöhnlich. Reich-Ranicki, so erklärte er, "hat die Trivialisierung der Kritik herbeigeführt. Meine Vorwürfe haben nichts damit zu tun, dass er Jude ist. Er ist ein schwacher Literaturkritiker." Auf Reich-Ranickis lange Lobrede (F.A.Z vom 30. August 2003) über den neuesten Gedichtband von Grass, "Letzte Tänze", hat der Autor noch nicht öffentlich reagiert.

K.K. (2005)

Spätere Ergänzungen:

Volker Weidermann: Das Duell. Die Geschichte von Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki. Köln: Kiepenheuer und Witsch 2019.
(Rezensionen dazu: Christian Buckard, Jüdische Allgemeine 7.9.19; Iris Radisch, DieZeit 12.9.19; Jochen Hieber, F.A.Z. 12.9.19; Gustav Seibt, Süddeutsche Zeitung 18.9.2019; lesenswert Quartett mit Denis Scheck, SWR2 24.9.2019).

Uwe Neumann: Kein weites Feld. Zum Briefwechsel zwischen Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki. In: Freipass. Forum für Literatur, Bildende Kunst und Politik, Bd. 3, 2018, S. 142-195.

Uwe Wittstock: Marcel Reich-Raicki. Die Biografie. München: Blessig 2015. Abschnitt zu Günter Grass S. 260-264 (bei literaturkritik.de hier gesondert publiziert)

Nachtrag (2012): Nach dem Lob der "Letzten Tänze" und einer versöhnlichen Begegnung in Lübeck kritisierte er im April 2012 vehement sein Gedicht "Was gesagt werden muss".

Marcel Reich-Ranicki: Unser Grass. München 2003. (dtv 2005).

Eine literaturwissenschaftliche Kritik an Reich-Ranickis Rezension zu "Ein weites Feld" enthält Jutta Osinski: Aspekte der Fontane-Rezeption bei Günter Grass. Zuerst in: Fontane-Blätter 62,1996, S. 112-126.

Joachim Fest


Ihn hatte Reich-Ranicki 1966 kennen gelernt und sich mit ihm befreundet. Die sehr unterschiedlich gearteten Persönlichkeiten hatten bei allen Gegensätzen, die sie aneinander banden, vor allem eines gemeinsam: Beide bewunderten Thomas Mann. Joachim Fest war damals im Norddeutschen Rundfunk für das Fernsehmagazin „Panorama“ verantwortlich. Anfang der siebziger Jahre schrieb er an seiner bedeutenden Hitler-Biographie. Noch vor ihrem Erscheinen erhielt er das Angebot, Mitherausgeber der „Frankfurter Allgemeinen“ zu werden und den Kulturteil dieser Zeitung zu betreuen. Fest seinerseits bot dem Freund an, die Leitung der Literaturredaktion zu übernehmen. Warum die Freundschaft in den späten achtziger Jahren zerbrach, dazu gibt Reich-Ranickis "Mein Leben" genauere Auskünfte. Danach war es Fests Position im "Historikerstreit", die Reich-Ranicki beschämend fand.

Peter Rühmkorf

Siehe dazu Dieter Lamping: Verständnisschwierigkeiten zwischen Großkritik und Hochliteratur . Über den Briefwechsel zwischen Marcel Reich-Ranicki und Peter Rühmkorf (in: literaturkritik.de April 2015)

Ulla Hahn

Bei einer Fernsehdiskussion im August 1979 lernte er sie kennen. Sie war Literaturredakteurin bei Radio Bremen. Das Gespräch war, wie Reich-Ranicki in "Mein Leben" erzählt, nicht sonderlich bemerkenswert. Als die Redakteurin bekannte, selbst gelegentlich Gedichte zu schreiben, bot er ihr aus Höflichkeit an, ihm einige zu schicken. Als die ersten vier mit der Post kamen, las er sie sofort – und war begeistert. Nach Rücksprache mit Ulrich Greiner, der damals in seiner Redaktion arbeitete, stand der Entschluss fest, alle in der Zeitung zu drucken. Am 22. August 1979 erschien im Feuilleton Ulla Hahns „Anständiges Sonett“, das erste von vielen Gedichten der bis dahin völlig unbekannten Lyrikerin, die dann in dichter Folge in der Zeitung gedruckt wurden. Das war der Anfang einer Serie von Aktivitäten, mit denen Reich-Ranicki mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, "seine Entdeckung" durchzusetzen versuchte. Details dazu finden sich in Thomas Anz: Marcel Reich-Ranicki. München: dtv 2004 (dtv portrait).

Dass es ihm bei seinen machtvollen Einsätzen zugunsten oder zuungunsten einzelner Autorinnen oder Autoren nicht um Personen, sondern um Texte ging, zeigt ebenfalls das Beispiel Ulla Hahn. Daraus, dass er ihre Prosa, die sie seit ihrem ersten Roman „Ein Mann im Haus“ (1991) veröffentlichte, missachtete, machte er keinen Hehl. Ähnlich wie viele Jahre vorher im Fall Ingeborg Bachmannn hielt er den Weg dieser Autorin von der Lyrik zur Prosa für verfehlt. Als Kritiker hat er sich nicht öffentlich über sie geäußert – bis 2001 ihr autobiografischer Roman „Das verborgene Wort“ erschien. In der vorletzten Sendung des „Literarischen Quartetts“ hat er ihn „verrissen“ – und ungeachtet der wütenden Reaktionen der Autorin in seine 2003 erschienene Anthologie „Meine Gedichte von Walther von der Vogelweide bis heute“ fünf Gedichte von ihr aufgenommen.

Tilman Krause: Laute Empörung zum langen Abschied. Das kleine Freitag-Nacht-Gespenst: Marcel Reich-Ranicki rächt sich im "Literarischen Quartett" an Ulla Hahn, und die schlägt zurück, in: Die Welt vom 24.10.2000 ( http://www.welt.de/daten/2001/10/24/1024kli290801.htx?search=Ulla+Hahn&searchHILI=1)

In Spiegel Online geht Mathias Schreiber auf die Beziehung im Zusammenhang mit Reich-Ranickis Lyrik-Anthologie "Meine Gedichte" ein, in der sechs Gedichte von Ulla Hahn abgedruckt sind.

Peter Handke

Die Todeswünsche, die viele Schriftsteller, die ihm seine Verrisse verübelten, gegen Reich-Ranicki richteten, sind auch in ihre literarischen Phantasien und Texte eingegangen. Peter Handke, der sich schon 1968 ungemein abfällig über Reich-Ranicki geäußert hatte, stellt die Person des Kritikers 1980 in seiner Erzählung „Die Lehre der Sainte-Victoire“ als einen mordlustigen „Leithund“ dar. "Ja, vor mir, hinter dem Zaun, stand ein großer Hund – eine Doggenart –, in dem ich sofort meinen Feind wiedererkannte." Die Blicke der beiden begegnen sich: „und dann wußten wir voneinander, wer wir waren, und konnten nur noch auf ewig Todfeinde sein.“ Der Protagonist betrachtet "den Feind [...], wie er in seiner von dem Getto vielleicht noch verstärkten Mordlust jedes Rassenmerkmal verlor und nur noch im Volk der Henker das Prachtexemplar war." Ein Opfer der deutschen Nationalsozialisten, so der maßlose Vergleich, ist als Kritiker selbst zum Täter geworden. Am Ende wünscht der bedrohte Protagonist dem Hund den Tod: „ja, jetzt trachtete er mir nach dem Leben; und auch ich wollte mit einem Machtwort ihn tot und weg haben.“
In Handkes monumentalem Roman „Mein Jahr in der Niemandsbucht“ (1994) fallen die Urteile über den Kritiker moderater aus: Der Ich-Erzähler nennt ihn einen der "schlauesten und zugleich beschränktesten", bemüht jedoch mit Bezeichnungen wie "Schnüffler und Reißer" erneut den Vergleich mit einem Tier.

Siegfried Lenz

Als Reich-Ranicki 1958 von Polen in die Bundesrepublik übersiedelte, tat Siegfried Lenz alles, um ihm Kontakte mit Rundfunksendern und Zeitungen zu verschaffen. Seither verband sie eine Jahrzehnte lange Freundschaft. Um sie nicht zu gefährden, verzichtete Reich-Ranicki darauf, die literarischen Werke des Freundes zu besprechen.

Sigrid Löffler

Ein Streit, der für erhebliches Aufsehen sorgte, war der zwischen Marcel Reich-Ranicki und Sigrid Löffler im Sommer 2000. Löffler sah sich im Verlauf dieses Streites genötigt, aus dem "Literarischen Quartett" auszuscheiden. Anlass waren die Auseinandersetzungen um den erotischen Roman "Gefährliche Geliebte" von Haruki Murakami. Die sexistische Sprache des Romans traf bei Sigrid Löffler auf vehemente Ablehnung. Ausdrücke wie "hirnerweichendes Vögeln" disqualifizierte Löffler als "literarisches Fastfood" . Marcel Reich-Ranicki unterstellte ihr ein grundsätzliches und persönliches Problem mit Liebesromanen. Er warf ihr vor, das Buch allein seiner erotischen Passagen wegen abzulehnen.

Aufgrund dieser verbalen Attacke entschloss sich Sigrid Löffler am 30. Juni 2000, das "Literarische Quartett" zu verlassen. Nachfolgerin wurde Iris Radisch, Literaturredakteurin der Zeit. Der öffentliche Streit zwischen Reich-Ranicki und Löffler setzte sich allerdings fort und wurde in den Medien immer weiter ausgeschlachtet. So erfuhr man, Marcel Reich-Ranicki habe Sigrid Löffler als „widerliches, niederträchtiges Weib“ beschimpft, während sie von „medialer Inkontinenz“ gegenüber Reich-Ranicki sprach. Ein Interview (oder die Parodie eines Interviews?) in "Literaturcafe" vom August 2000 enthält dazu einige Richtigstellungen.

Reich-Ranickis 2003 erschienenes Buch "Meine Bilder", das seine private Sammlung von Schriftstellerportraits mit kleinen Essays zu diesen Schriftstellern kommentiert, liest sich an exponierter Stelle wie ein Versöhnungsangebot. Der letzte Beitrag in dem Buch endet mit der Nennung eines Namens: des Namens von Sigrid Löffler. Der Beitrag portraitiert den von Löffler wie von Reich-Ranicki hoch geschätzten Thomas Bernhard. Er gilt vielen als ein Schriftsteller, dessen Produktivkraft der Hass ist. An "Wittgensteins Neffe" zeigt Reich-Ranicki, dass dieses Bild einiger Korrekturen bedarf. In diesem Buch einer Freundschaft finde sich "ungleich mehr Liebe als Haß". Nie habe Bernhard "menschenfreundlicher, nie zärtlicher geschrieben". Und als ob ihm dies ein Vorbild sei, fügt Reich-Ranicki abschließend hinzu: "Daß ich es nicht vergesse: Das Bild ist eine Gabe, die mir eine große Freude bereitet hat. Geschenkt hat es mir eine langjährige, eine geschätzte Kollegin: Sigrid Löffler."

Walter Jens

Zur Grundlage der über lange Zeit hinweg engen Freundschaft Reich-Ranickis mit Walter Jens gehörte nicht zuletzt die Einsamkeit des Kritikers, sein „monologisches Dasein“ im Wechsel von Lesen und Schreiben. Existenziell notwendiges Gegengewicht dazu wurde die „Telefon-Freundschaft“ mit Jens, eine höchst „seltsame“, eine „ungewöhnliche Freundschaft“, die „weitaus längste und wichtigste in meinem Leben“. Sie sahen sich selten, doch sie telefonierten miteinander oft und lange. Knappe Andeutungen genügten, um sich zu verstehen. Man bestärkte sich gegenseitig in seinen Projekten, gab sich Versprechungen für den Fall, dass einer vor dem anderen sterben würde.

Als im Herbst 1990, wohl aufgrund politischer Differenzen, die Beziehung ernsthaft gefährdet war, beteuerte Jens in einer Widmung deren Unzerstörbarkeit. Dass sie später, 1994, dann doch zerstört wurde, war „grausam“. Reich-Ranicki scheut sich in "MeinLeben" nicht, Max Frischs Beziehung zu Ingeborg Bachmann zum Vergleich heranzuziehen. Er zitiert jenen Satz aus „Montauk“, dessen Knappheit in so wirkungsmächtigem Kontrast zum Ausmaß dieser Tragödie der Trennung steht: „Das Ende haben wir nicht gut bestanden, beide nicht.“

Das Ende dieser Freundschaft, über das "Mein Leben" keine genaueren Auskünfte gibt, steht im Zusammenhang mit der Debatte von 1994 über Reich-Ranickis Tätigkeit im polnischen Geheimdienst. Den Rezensenten von "Mein Leben" im „Spiegel“ war aufgefallen: „Mit keinem Wort erwähnt er, dass er 1994 wegen seiner Geheimdiensttätigkeit unter dem Decknamen ‚Albin' öffentlich angegriffen wurde [...]. Seine Freunde wissen, wie sehr ihn die Debatte damals deprimiert hat“. Die Rezension informiert ebenfalls darüber, was das Ende der Freundschaft mit Walter Jens damit zu tun hatte: „Jens wollte sich nicht von jener Fernsehsendung distanzieren, in der sein Sohn Tilman das Geheimdienst-Kapitel erstmals eröffnet hatte.“

Am 28. August 2004 erschien als öffentliches Zeichen der Versöhnung in der FAZ im Rahmen der von Reich-Ranicki redigierten "Frankfurter Anthologie" ein Beitrag von Walter Jens. Die Versöhnung war wenige Wochen vorher in einer Aussprache der beiden herbeigeführt worden. (Vgl. dazu den Kommentar von Uwe Wittstock in Die Welt vom 30.8.2004)

Wolf Biermann

Siehe dazu Thomas Anz: Wolf Biermann und Marcel Reich-Ranicki. Über eine Freundschaft und Zerfreundung. In: literaturkritik.de 11/2016. Und Marcel Reich-Ranicki: Wolf Biermann. Der leidende Liedermacher. Hg. von Thomas Anz. Marburg: LiteraturWissenschaft.de 2016.

TA

Pro und Kontra: Stimmen über Reich-Ranicki

Das Erste online: Kulturreport vom 29.09.2002; http://www3.mdr.de/kulturreport/290902/thema4.html

"Marcel Reich-Ranicki ist der mächtigste Kritiker des Landes. Soviel Macht, wie er besitzt, hatte keiner seiner Kollegen jemals zuvor. Er ist der Literaturpapst, ein Markenzeichen, ein Medienstar. Zeigt Marcel Reich-Ranickis Daumen nach oben, ist der Erfolg eines Romans kaum noch aufzuhalten. Zeigt sein gefürchteter Daumen nach unten, kann das bisweilen das Aus des betroffenen Schriftstellers bedeuten. Marcel Reich-Ranicki inszeniert sich, und er weiß genau, wie er sich in das rechte Licht zu setzen hat. Seine aufbrausende Stimme, das bedrohlich rollende "R" sind Markenzeichen, die Reich-Ranicki unverwechselbar machen."

"Reich-Ranickis Kapital, mit der er die Literaturkritik zu einer spektakulären Institution gemacht hat in Zeiten von Bücherkrise, Lesemüdigkeit und grassierendem Analphabetismus, sind seine extremen Urteile. Er ist ein Ausbund an Subjektivität. Durch ihn wurde der spröde Job des Rezensenten zum Mythos geadelt. Das ist sein Lebenswerk, sein Verdienst."

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Mathias Döpfner: Die Reich-Ranicki AG in "Die Welt" vom 2. Juni 2000 (http://www.welt.de/daten/2000/06/02/0602ku171399.htx )

"Marcel Reich-Ranicki inszeniert die Selbstdarstellung als Kritiker, als Literaturpapst und Autorenschreck lustvoll."

"Marcel Reich-Ranicki hat große Literaturkritiken geschrieben. Meilensteine des Genres. Auf den ersten Blick kultiviert er einen mühelosen, schnörkellosen Geradeaus-Stil. Hauptsätze, Hauptsätze, Hauptsätze, kaum Fremdworte, wenig Metaphern und eine klare, an gesprochene Rede erinnernde Gedankenführung." "Dass irgendein von ihm verkanntes Genie durch Reich-Ranickis Angriffslust vernichtet worden wäre, gehört zu den larmoyanten Legenden seiner Feinde."

"Unterschätzt wird gerne, dass der leidenschaftliche Verreißer ebenso leidenschaftlich loben kann. Max Frisch, Wolfgang Koeppen, Hermann Burger, Ulla Hahn und Sarah Kirsch haben es erlebt"

"Marcel Reich-Ranicki ist neben Alfred Kerr der größte Kritiker des 20. Jahrhunderts."

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Fritz J. Raddatz in "Die Zeit" 24/2002; http://www.zeit.de/2002/24/kultur/200224_kritiker_walser.html

"Ranicki ist ein gelernter Preuße, hat stets gut fritzisch nach dessen Devise 'Fürchten sollt ihr mich, nicht lieben' agiert."

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Eckhard Henscheid (in: Junge Freiheit vom 07.06.2002; http://hometown.aol.de/rolftueschen/henscheid/html )

"Bei fast allen seinen Artikeln handelt es sich genaugenommen doch nur um die Simulation von Kritik. Das Ganze ist eigentlich nur eine große Gaunerei, was seit langem fast keiner mehr mitbekommt." http://www.welt.de/daten/2001/10/24/1024kli290801.htx

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"Freitag" vom 4. August 2000 (zum Literarischen Quartett)

"Konzentriertes Niederschreien des Romans Ein weites Feld von unser aller Günter Grass? Ja was denn sonst? Erst niederschreiben, dann niederschreien. So sind nun mal die Spielregeln."

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Peter Handke, in: "Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms" st 56, 1972 Marcel Reich-Ranicki und die Natürlichkeit (1968) http://www.physiologus.de/komment/lit/lit.htm "Reich-Ranicki kann man mit Einwänden nicht kommen: er kennt die alte List, sich dumm zu stellen, weil er nicht argumentieren kann." "Reich-Ranicki stellt sich schon lange keine Fragen über sich selbst mehr. Er, der unwichtigste, dabei am meisten selbstgerechte deutsche Literaturkritiker seit langem, kann freilich alle Angriffe mit seinem Kommuniquésatz abwehren: "Ein Literaturkritiker, der etwas taugt, ist immer eine umstrittene Figur." Von mir aus ist er nicht umstritten."

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Weitere Stimmen

"Chefdompteur des Literarischen Quartetts" (Spiegel)

"Gesamtkunstwerk Kritiker" (Neues Deutschland)

"Kahlschläger" (Wiener)

"Musterfall eines väterlich-autoritären Zirkusdirektors" (Volker Hage)

"Terminator der deutschen Literaturwelt" (Quick)

"Verona Feldbusch der deutschen Literaturkritik" (Zeit)

"Vorleser der Nation" (Friedrich Luft)

"Ich liebe ihn, anders ist er auch nicht auszuhalten" (Wolf Biermann)

"Sie gehen dem merkwürdigsten aller Berufe nach, Sie sind Literaturpapst. Und wie es sich für einen Papst gehört, segnen und verdammen Sie. Bann und Segen liegen oft dicht beieinander." (Hellmuth Karasek 1988 im Literarischen Quartett)

"Das große Projekt von Reich-Ranicki besteht darin, die Literatur zugunsten der Literaturkritik abzuschaffen." (Willi Winkler 1998 in der SZ)

"Deutschlands meistgelesener, meistgefürchteter, meistbeachteter, darum meistgehaßter Literaturkritiker" (Joachim Kaiser in "Zwischen Diktatur und Literatur")

"Ich sollte überhaupt nicht mit Ihnen reden, ich sollte hier ein Maschinengewehr haben und Sie niederschießen." (Rolf Dieter Brinkmann)

"Der Mann ist einer der sieben Plagen, die wir vermutlich verdient haben." (Antje Vollmer 1995, zitiert nach der Zeit)

"Der Flachmann als Erzieher" (konkret)

(Aus: Der Reißwolf der Literatur. Marcel Reich-Ranicki: Seine Sprüche - Seine Verrisse - Seine Weisheiten (ausgewählt von Matthias Ohnsmann, Europa Verlag, Hamburg 2002, Kap. 1: S. 5-6/ Kap. 7, S. 74-75), und: Hage/Schreiber: Marcel Reich-Ranicki. Ein biographisches Portrait. Teil 1, Kap. 9: Der Feind, der Todfeind u.a.)

Mitarbeit: Katja Köhne, Gesa Steinbrink

Zuletzt geändert: 26.9.19

 

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