Frankfurter Anthologie Beispiele Aus der "Frankfurter Anthologie", Bd. 23 (2000). Ludwig Tieck Der Überlästige Widerwärtiger, verhaßter
Langsam wandl'
ich die Stadt hinunter,
Schon hat der Bösewicht,
Lutz Hagestedt Besprechungszauber Unser Spaziergänger ist eine janusköpfige Figur: Betont langsam geht er die Stadt hinunter. Die Stadt der Tempel, Paläste und heiligen Trümmer - damit kann nur Rom gemeint sein. Ludwig Tieck war 32 Jahre alt, als er die Stadt der Städte 1805 besuchte und sein Gedicht verfasste. 1823 ist es im Rahmen der "Reisegedichte eines Kranken" erschienen. Erst 32 Jahre alt, ruft er die frühen Jahre zurück, beschreibt er die Positur des Greises. Vielleicht fühlt man sich an ein Goethesches Altersgedicht, an die "Zueignung" zum "Faust" erinnert: "Ihr naht Euch wieder, schwankende Gestalten, die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt". Doch dieser hier ist unduldsamer, hat das Leben noch vor sich. Er wartet förmlich darauf, eingeholt zu werden: Wann kommt er denn endlich, der Lästige? Man spürt, wie er die Lauscher aufstellt und ungeduldig hinter sich horcht. Der Lästige ist überfällig, lang ersehnt, endlich da - er ist ein Überlästiger. Schiere Lust spricht aus der Erwartung, dem "Bösewicht" bös mitzuspielen: denn unser Erzähler ist Künstler, Gaukler, Schauspieler, er brennt darauf, die alten Maskenkünste noch einmal zu erproben. Und seine Verwandlung gelingt: Als hässlicher Quasimodo bereitet er dem salzlosen Schwätzer einen gepfefferten Empfang. Wem eigentlich gilt sein Taschenspielertrick? Wem tritt er da entgegen, ist da wirklich einer hinter ihm her? Oder sind es bloß Einflüsterungen des Zeitgeistes, deren er sich zu erwehren hat? Dieser Besprechungszauber, der auf die berühmte Schwätzersatire des Horaz ("Sermones" I,9) zurückgeht, kann auch noch ganz anders gedeutet werden. Mit Anfang dreißig war Tieck bereits schwer gichtbrüchig. Die lang ersehnte Rom-Reise war wegen eines schmerzhaften Schubes immer wieder aufgeschoben worden. Noch nicht ganz genesen, gebeugten Hauptes, schiefen Kreuzes wagte Tieck es schließlich doch, die beschwerliche Fahrt anzutreten. Neue Anregungen wollte er sich holen, freie Gedankenluft schöpfen. In Jena und München, in der eigenen Familie und im Freundeskreis sah er sich den Einflüsterungen der zahllosen Konvertiten ausgesetzt, die um 1800 zum Katholizismus übertraten. Zuletzt hatte ihn Carl Friedrich von Rumohr mit der Nachricht überrascht, ins Kloster gehen zu wollen. Tieck widerstand all diesen Eiferern. Er horchte nach innen: auf seinen Körper, der so früh schon gealtert war und die Jugendkraft eingebüßt hatte. Würde er je wieder vollständig genesen - oder für immer krummgeschlossen sein im eigenen Leib, für "alle Krümmen des Weges"? Im Stillen wusste er wohl: Neue, schlimmere Anfälle waren zu erwarten. "Die gräßlichsten Bilder", schreibt sein erster Biograph Rudolf Köpke, "verfolgten ihn am Tage." Aber die Gicht galt im Volksaberglauben als Hexenkunst, als "besprochene" Krankheit. Vielleicht also war es möglich, ihren Dämon durch die höchste aller Künste, die Dramatik, zu bannen? Typen wie der vom Monte Cavallo, wo Tieck logierte, finden sich auch heute im Straßenbild, immer in der Erwartung eines nahenden Übels. Glücklich, wer sich da nicht nur von trüben Gedanken schwermütig begleiten lässt, sondern noch aus den Qualen lebendiges Theater schöpfen kann. Tieck, der Shakespeare über alles liebte und von Verona über Mantua und Florenz nach Rom gekommen war, hatte bei seinem Großmeister erfahren, dass sich die tiefste Komik aus dem durchgearbeiteten Schmerz gewinnen lässt. Ludwig Tieck: "Gedichte". Hg. von Ruprecht Wimmer. Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt/M. 1995.
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