Erinnerungen

 

Eva Demski

Schlüsselgeschichte

Marcel Reich-Ranicki zum 85. Geburtstag

Meine Lieblingsgeschichte mit ihm erzähle ich vor der eigentlichen: Es ist ein sonniger Samstag, wir begegnen uns an der häßlichen Hauptstraße und unterhalten uns ein bißchen. Das heißt, seine Frau Tosia und ich unterhalten uns, deswegen langweilt er sich und schaut ins Schaufenster einer Apotheke. Der Apotheker, ein naturverbundener Mensch, unterrichtet seine Kunden auf einer Schautafel über bedrohte Tierarten.
Marcel Reich-Ranicki studiert sie mangels Interessanterem, kommt zu einem Schluß, dreht sich um und spricht zu seiner Frau wie folgt:
„Sieh mal, Tosia, eine Würfelnatter. Sie sagt, sie stirbt aus! Na und? Ich habe noch nie eine Würfelnatter gebraucht!“
Zu der Zeit glaube ich, ihn so weit zu kennen, daß ich mir die Würfelnattergedanken in seinem Kopf vorstellen kann: Wozu hat der Schöpfer, an den ich sowieso nicht glaube, ein Wesen erschaffen, das weder für Thomas Mann noch für Goethe, Fontane oder Shakespeare brauchbar ist? Nicht einmal im Paradies, an das ich ebenfalls nicht glaube, kann man sich eine Schlange mit diesem Namen vorstellen: Also stirb ruhig aus, du literarisch unnützes Tier, keiner wird dich beweinen. Da sie aber doch dieses eine, einzigemal auf Papier geraten ist, billigt er ihr eine Stimme zu: „Sie sagt, sie stirbt aus.“ Sie ist gedruckt, also ist sie. Jedenfalls in dieser Apotheke.
So, denke ich, dachte er.
Erst später ist mir aufgegangen, warum ich diese Geschichte so gern habe und warum sie mich gerührt hat, obwohl ich lachen mußte. Das hat mit der zweiten Geschichte zu tun, die viel weiter zurückliegt und die ich zu erzählen versuche.
Damals hatte er mich zum Essen eingeladen, in ein italienisches Kneipchen, das nichts besonderes war und schon lang nicht mehr existiert. Was war der Grund für die Einladung? Ich weiß es nicht mehr. Ich sollte etwas schreiben, er wollte eins seiner kleinen Examina veranstalten und die Schweißausbrüche seines stotternden Gegenübers genießen –  was es auch war, das Gespräch geriet in eine andere Richtung. Er erzählte vom Warschauer Ghetto, lakonisch, er brauchte wenig Worte. Seine Mutter habe ihm von einem Mädchen in der Nachbarschaft erzählt, dessen Vater sich gerade erhängt habe.Er solle sich um sie kümmern, habe sie zu ihm gesagt. „Das tu ich bis heute“ beendete er seine karge Erzählung. Mit dem Weiteressen war nichts, jedenfalls nicht bei mir.
Heute kennen zigtausende von Lesern seiner Autobiografie „Mein Leben“ diese Geschichte, was vor ihr war und was danach. Damals haute es mich um. Nicht, daß ich nicht gewußt hätte, was es mit dem Holocaust auf sich hatte – aber diese Unmittelbarkeit, diese unerträgliche Knappheit und Klarheit war mir neu.
Einem wie dem mußte Literatur etwas anderes bedeuten als den Literaturleuten, die ich bisher kennengelernt hatte. Eine Art Arche Noah vielleicht, mit der man der Flut der Barbarei entkommen kann.

Ich mußte jedenfalls Jahre später, beim samstäglichen Zusammentreffen mit der unglücklichen Würfelnatter, wieder an die frühe Begegnung denken. Diesem Mann, der sich nie erlahmend voll Neugier und Leidenschaft in die Literatur stürzt und auf fast komische Weise das ganze Universum auf seine literarische Tauglichkeit überprüft, ist die Eroberung einer Welt gelungen, auf die man sich verlassen kann. Sie enthält, was wichtig ist: Liebe, Verrat, Tod, Hunger, Einsamkeit, Glück – aber sie läßt sich beherrschen und ertragen. Man kann sie zuklappen, wenn es in ihr nicht mehr auszuhalten ist. Und wer nichts in ihr zu suchen hat, soll ruhig aussterben.

© Eva Demski

 

 

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