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Streit um Reich-Ranickis Tätigkeit für den polnischen Geheimdienst

Am 4. April 1994 erschien im "Spiegel" unter dem Titel "Tante Christa, Mutter Wolfen" ein Verriss Marcel Reich-Ranickis zu Christa Wolfs Buch "Auf dem Wege nach Tabou". Die zwischen 1990 und 1994 geschriebenen "Texte", die in dem Buch publiziert waren, und die literaturkritischen Reaktionen darauf standen im Zusammenhang mit den damaligen Debatten um Christa Wolfs Position in der ehemaligen DDR. Kurz zuvor war publik geworden, dass der Staatssicherheitsdienst der DDR die die damals noch jungen Autorin von 1959 bis 1962 in seinen Akten als "Informelle Mitarbeiterin" geführt hatte.

Eine neue Debatte über Christa Wolf initiierte Reich-Ranickis umstrittene Rezension nicht, wohl aber eine Debatte über ihn selbst und eine Episode seiner Lebensgeschichte, die mit der IM-Vergangenheit der von ihm attackierten Autorin verglichen wurde. Unverhüllt als Racheakt für seine Angriffe auf Christa Wolf gab Tilman Jens, der Sohn von Reich-Ranickis engem Freund Walter Jens, in der Fernsehsendung "Kulturweltspiegel" vom 29. Mai 1994 sich später erhärtende Hinweise auf Reich-Ranickis zeitweilige Arbeit für den polnischen Geheimdienst, die er der Öffentlichkeit bislang verschwiegen hatte. Dem Medieninteresse am Fall Christa Wolf folgte so als "Nachspiel" unversehens das am Fall Reich-Ranicki. Mit dessen Kritik an Christa Wolf hatten die "Enthüllungen" über ihn freilich in der Sache nichts zu tun. Über Christa Wolfs IM-Vergangenheit hatte sich Reich-Ranicki mit keinem Wort geäußert. Dass die Autorin überzeugte Kommunistin war, hat er nie kritisiert. "Niemand zieht sie dafür zur Rechenschaft, am wenigsten der Schreiber dieser Zeilen, der auch einmal an den Kommunismus geglaubt hat". Es gehe nicht darum, so Reich-Ranicki in seiner Rezension, "daß sie verblendet war, sondern daß sie es geblieben ist." Als Reaktion auf seine Polemik gegen Christa Wolf war die Initiation der Debatte über Reich-Ranickis kommunistische Vergangenheit völlig deplatziert.

Dennoch wurde diese Episode seiner Lebensgeschichte über Monate hinweg zum Gegenstand öffentlicher Enthüllungen, Anschuldigungen, Verdächtigungen und Debatten, die ihn bedrängten und verletzten. Er selbst trug insofern zur Eskalation bei, als er zunächst gar nicht und dann zunächst mit verharmlosenden Entstellungen das Faktum seiner Arbeit für den Geheimdienst bestätigte. Er verlor Freunde, die sich von ihm hintergangen fühlten, Wolf Biermann zum Beispiel, der ihn zunächst vehement verteidigte und seine Apologie dann kurz darauf widerrief: Er sei „in eine Freundschaftsfalle getappt. Marcel Reich-Ranicki hat mich gefoppt.“ (Der Spiegel 27, 4.7.1994)

Dass der polnische Geheimdienst keineswegs eine harmlose und dilettantische, sondern eine verbrecherische und im wörtlichen Sinn mörderische Institution gewesen sei, hielt man Reich-Ranicki vor. Die Abteilung, in der er arbeitete, war freilich mit ihren Aufgaben der Informationsbeschaffung an diesen Verbrechen nicht beteiligt. Tilmann Jens scheute sich nicht, die Machtausübung und die Verrisse des späteren Literaturkritikers als Fortsetzung geheimdienstlicher Skrupellosigkeit in einem totalitären Regime hinzustellen, in dem Konspiration, Denunziation und Desinformation an der Tagesordnung waren. Ein weiterer Vorwurf lautete, Reich-Ranicki habe in London Exilpolen zur Heimkehr veranlasst und damit in den Tod geschickt; Kenner der Situation wiesen jedoch darauf hin, dass die Rückführung von Exilanten nicht zu seinem Aufgabenbereich gehört hatte. Einige schwächten daraufhin den früheren Vorwurf zu dem der Mitwisserschaft ab. Eine kurze Zeit kursierte sogar der bald zurückgenommene Verdacht, dass er 1958 aus Polen nicht in die Bundesrepublik geflüchtet, sondern mit geheimdienstlichen Aufträgen geschickt worden sei.

Solche Vorwürfe und Spekulationen, die durch keine der bislang aufgetauchten Akten bestätigt wurden, waren zunächst dazu angetan, den Ruf Marcel Reich-Ranickis nachhaltig zu beschädigen. Unter gewiss ganz anderen Umständen wiederholte sich dabei 1994 etwas von dem dramatischen Geschehen im Jahr 1949, als Reich-Ranickis politische Karriere ihr plötzliches Ende fand. Politische und persönliche Machtkämpfe, Feindseligkeiten, Halbwahrheiten und Denunziationen waren nämlich kennzeichnend für beide Krisenphasen in dieser Lebensgeschichte. In jeder kämpfte Reich-Ranicki mit größter Hartnäckigkeit um seine Rehabilitation. Diese gelang ihm nur zum Teil, doch beide Male hatte die Krise einen positiven Effekt. Die Auseinandersetzungen von 1994 dürften maßgeblich zu Reich-Ranickis Entschluss beigetragen haben, seine Autobiografie zu schreiben. Es scheint, als seien ganze Teile davon wohlüberlegte Reaktionen darauf, nachholende und sich wiederholende Erzählungen über Dinge, über die zu erzählen ihm vor 1994 schwer fiel. Als andere begannen, Nachforschungen über sein Leben anzustellen, da wollte er ihnen seine eigene Version entgegenstellen.

Einiges davon ist schon in das 1995 erschienene Buch „Marcel Reich-Ranicki“ von Volker Hage und Mathias Schreiber eingegangen: in die dort abgedruckten Interviews, in die Neupublikation seiner autobiographischen Erzählung aus dem Jahr 1958 über das Wiedersehen mit Berlin nach Kriegsende und auch in den biographischen Essay Volker Hages, der auf ausführlichen Gesprächen mit Reich-Ranicki basiert. Die zu dieser Zeit bereits aufgenommene Arbeit an der Autobiografie schloss Reich-Ranicki erst im Frühjahr 1999 ab. Hier sind es nur noch wenige Passagen, die ganz offensichtlich unter dem Rechtfertigungsdruck von 1994 stehen, vor allem diese: „Wenn ich mich damals, noch im Krieg gegen das nationalsozialistische Deutschland, dem Ruf polnischer Behörden, im Auslands-Nachrichtendienst zu arbeiten, verweigert oder entzogen hätte – ich hielte es für einen Fleck in meiner Biographie.“

Zu den wichtigsten Aufgaben der Geheimdiensttätigkeit in London gehörte es nach Reich-Ranickis Darstellung, Informationen über diejenigen Polen zu sammeln, die aus politischen Gründen in England lebten. „Es ging darum, rechtzeitig zu ermitteln, was die politischen Emigranten gegen den neuen polnischen Staat unternehmen wollten“. Kontakte zu Exilpolen hatte Ranicki selbst nicht. Wie schon vorher in der Postzensur bestand seine Tätigkeit wesentlich aus der kritischen Arbeit an Texten. Er hatte nach eigenen Angaben die von anderen gelieferten Auskünfte und Berichte über die politischen Exilanten zu begutachten und nach Warschau weiterzuleiten. Die Informationen stammten zum größten Teil aus öffentlichen Versammlungen und den polnischen Exilzeitungen, waren also eigentlich wenig geheim, wurden jedoch aus Prestigegründen als geheim deklariert. Die Reaktionen aus der Warschauer Zentrale auf das dorthin geschickte Material waren spärlich, Weisungen kamen selten. Die Arbeit schien daher insgesamt ziemlich unerheblich und war wenig befriedigend.

Das, so suggeriert die Autobiografie, war einer der Gründe dafür, über diese Tätigkeit so lange nichts zu erzählen. Ausdrücklich führt die Autobiografie einen anderen, gravierenderen Grund an: Nach der Entlassung aus dem Außen- und dem Sicherheitsministerium wurde Ranicki noch einmal vorgeladen. „Ich hatte eine Erklärung zu unterzeichnen, derzufolge ich mich verpflichtete, niemals ein Wort über den polnischen Geheimdienst und über alles, was mit ihm zusammenhing, verlauten zu lassen. Sollte ich mich nicht daran halten, müsse ich – darüber wurde ich mit besonderem Nachdruck belehrt – der schlimmsten und schärfsten Konsequenzen gewärtig sein. Was damit gemeint sei, dessen sei ich mir wohl bewußt. Obwohl das Wort ‚Todesstrafe' nicht verwendet wurde, hatte ich keinen Zweifel, worauf meine Gesprächspartner anspielten. Ich habe die Drohung sehr ernst genommen.“

Von dem tatsächlichen Ernst solcher Drohungen zeugen autobiografische Berichte, die ein damaliger Mitarbeiter des polnischen Geheimdienstes in Warschau und in London, Krzysztof Starzynski, nach der Wende von 1989 in polnischer Sprache publizierte. Eine deutsche Version dieser Erinnerungen erschien, von einem Journalisten bearbeitetet, 1997 – mit einem Vorwort von Tilmann Jens, der sich schon 1994 bei seinen „Enthüllungen“ über Reich-Ranicki auf Starzynski berufen hatte. Ranicki war in London Starzynskis unmittelbarer Vorgesetzter. Dessen Erinnerungen an Ranicki bleiben im Resultat vage: „Mir scheint“, schreibt Strazynski am Ende des Buches, „daß die volle Wahrheit um die Vergangenheit des deutschen Literaturpapstes [...] immer noch im dunkeln liegt.“ Starzynski selbst wurde zu einem Doppelagenten. 1949 verriet er dem britischen Geheimdienst, was er über die kommunistische Regierung und die „Bezpieka“ wusste. 1950 verurteilte ein polnisches Gericht ihn und seine Frau in Abwesenheit zum Tode. Die Frau wurde 1962 in Neuseeland vergiftet; der Mann lebte vierzig Jahre lang in der Angst, von Agenten des polnischen Geheimdienstes entdeckt und bestraft zu werden.

Im Sommer 2002 berichtete zuerst „Die Welt“ (am 12.8.) über die etwa 109 Blätter umfassende Personalakte, die das polnische Sicherheitsministerium über Ranicki angelegt hatte. Ihr Inhalt bestätigt weitgehend das Bild, das schon 1994 die Berichte über polnische Akten und Augenzeugen vermittelten. Es weicht von dem Bild, das auch noch die Autobiografie von der Geheimdiensttätigkeit zeichnet, erheblich ab. „Ich war, um es gelinde auszudrücken, weder ein eifriger noch ein talentierter Organisator dieses geheimen Informationsdienstes“, heißt es dort. Den Akten nach hat Ranicki seine Arbeit hingegen mit Leidenschaft betrieben und ist ein hervorragender Agentenführer gewesen. Mehrere Vorgesetzte lobten seine Intelligenz und seinen Eifer: Er sei „gut in der operativen Arbeit, vernarrt in den Geheimdienst“, er „kennt die Psyche des Agenten“, sei „ergeben, politisch zuverlässig, bewährt“. Seine Karriere gebe „Anlass zu großen Hoffnungen“. Moniert werden indes Arroganz, Opportunismus und „intelligenzlerhafte Manieren“.

Reich-Ranicki hat in einem Gespräch mit Uwe Wittstock noch in derselben Ausgabe der „Welt“ die Abweichung von seiner eigenen Darstellung so erklärt: „Das Leben in London war für mich natürlich viel interessanter und auch bequemer als in Warschau. Wenn ich auf diesem Posten bleiben wollte, konnte ich der Warschauer Zentrale doch nicht die Wahrheit sagen, dass ich nämlich meine Arbeit für den Geheimdienst für belanglos und überflüssig halte und dass ich sie daher ungern mache.“

Beinahe zwei Jahre lebte das Ehepaar in London. Es ging ihm in dieser Zeit besser als je zuvor. Die beiden hatten eine geräumige Wohnung und ein großes amerikanisches Auto, reisten durch England und Schottland, mal auch ein Wochenende nach Paris, verbrachten ihren Urlaub in der Schweiz oder in Italien. „Wir waren privilegiert.“

Im Jahr 1948, am 30. Dezember, wurde in London das einzige Kind des Ehepaares geboren, der Sohn Andrzej Alexander. Das Lebens- und Familienglück währte freilich nicht lange. Erneut fiel es den politischen Entwicklungen des zwanzigsten Jahrhunderts zum Opfer. Auf die Pläne Titos, in Jugoslawien eine eigenständige Form des Sozialismus zu etablieren, reagierte die Sowjetunion mit der Gleichschaltung der anderen großen Blockländer. Der Führer der polnischen Kommunisten, Wladyslaw Gomulka, wurde gestürzt. Auf die relativ liberale Periode in der Geschichte Polens nach dem Krieg folgte die Zeit stalinistischer Rigorosität.

Die Gründe dafür, dass Ranicki 1949 aus London abberufen wurde, sind in der Autobiografie nur vage benannt. Er habe als „kosmopolitisch“ gegolten. Das war ein Schimpfwort für Intellektuelle, die man nicht für linientreu hielt. Er selber habe, so erinnert sich Reich-Ranicki, um seine Abberufung gebeten. Die Personalakte des Sicherheitsministeriums nennt als Verdachtsmomente und Symptome ideologischer Entfremdung hingegen seine „unklare Rolle im Ghetto“ und die eigenmächtige Erteilung eines polnischen Einreisevisums an seinen trotzkistischen Schwager in London. Zur Last gelegt wurden ihm außerdem, dass er in einem seiner ersten Lebensläufe für das Ministerium angegeben hatte, 1932 in Berlin der Kommunistischen Jugend und 1937 der illegalen KPD beigetreten zu sein. In Wahrheit hatte er lediglich Sympathien und Kontakte zu kommunistischen Kreisen und war für sie tätig, ohne Parteimitglied zu sein. Außerdem hatte er behauptet, im „Judenrat“ des Warschauer Gettos auf einem untergeordneten Kanzleiposten beschäftigt gewesen zu sein, während er in Wirklichkeit Chefdolmetscher gewesen war. Ranickis Gegenspieler hofften, auch seine Aussage widerlegen zu können, dass er damals Kopien der ihm zugänglichen Dokumente an das Untergrundarchiv des Gettos weitergeleitet habe und am Überfall einer jüdischen Untergrundorganisation auf die Kasse des Judenrates beteiligt gewesen sei. Und man unterstellte ihm sogar eine Kollaboration mit den Deutschen.

Über alles das informierte so detailliert wie keiner zuvor und ohne jene Feindseligkeit, die den Enthüllungen von Tilman Jens eigen war, der Warschauer Journalist Janusz Tycner in der „Zeit“ vom 15. Juli 1994. Er hatte Einsicht in die Parteiakten Marcel und Teofila Ranickis sowie in die Personalakte des Außenministeriums, und er stützte sich auf Berichte einiger der wenigen noch lebenden Menschen, die Ranicki in der Zeit und im Umfeld seiner Geheimdiensttätigkeit gekannt hatten. Der zwei Zeitungsseiten lange Artikel führte weitere, wenn auch ganz anders geartete Gründe für die Entlassung Ranickis an. Demnach waren die offiziell geltend gemachten Gründe für den Ausschluss aus dem Dienst und der Partei nur wenig gewichtige, doch willkommene Vorwände, die dazu dienten, sich eines erfolgreichen Kollegen, der vielen als provozierend eitel und arrogant erschien „und der im Londoner Konsulat weniger gebildete Beamte mit seinen Belehrungen über Literatur und Musik genervt hatte“, endlich zu entledigen und die eigene revolutionäre Wachsamkeit unter Beweis zu stellen. Ranicki war nach dieser Version seiner damaligen Lebensgeschichte ein Opfer der im Sicherheitsministerium und in der Partei chronischen Intrigen und Machtkämpfe. Und es half ihm nicht, dass die Bemühungen seiner Gegner, Beweise für wirklich gravierende Vergehen zu finden, erfolglos blieben. So forderte die Parteikontrollkommission im November 1951 von dem Direktor des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau ein Gutachten „über Ranickis Benehmen und Arbeit im Ghetto“ an. Eine Woche später erhielt die Kommission einen Bericht, in dem zu lesen war: „Marceli Reich arbeitete im Warschauer Judenrat als Hauptdolmetscher für Deutsch. Belastendes über ihn und seine Tätigkeit in dieser Behörde ist uns nicht bekannt.“ Der Bericht bestätigte, dass in einem Teil des Untergrundarchivs Kopien von Dokumenten mit Reichs Signatur (mr) gefunden wurden.

TA

Weitere Informationen dazu enthält Thomas Anz: Marcel Reich-Ranicki. München: dtv 2004 (dtv portrait). Hier das Kapitel "Nach dem Krieg" (mit dem Abschnitt "Im polnischen Geheimdienst"), S. 57-71. - Vergleiche auch die Seite zu "Mein Leben"!

Hinweise

Im Sommer 2002 tauchten die Personalakten auf, die der polnische Geheimdienst zu Reich-Ranicki angelegt hatte. Vgl. dazu die folgenden Artikel:

Von Gerhard Gnauck: "Kennt die Psyche des Agenten". Die polnische Geheimdienst-Karriere Marcel Reich-Ranickis im Spiegel seiner Personalakte. In: Die Welt, 12.8.2002
http://www.welt.de/daten/2002/08/12/0812ku350100.htx?search=Reich-Ranicki+Geheimdienst&searchHILI=1

Marcel Reich-Ranicki: "Ich habe kein Wort zu korrigieren" Marcel Reich-Ranicki über seine Akte und die Zeit im Geheimdienst [Gespräch mit Uwe Wittstock]. In: Die Welt 12.8.2002
http://www.welt.de/daten/2002/08/12/0812ku350101.htx?search=Reich-Ranicki+Geheimdienst&searchHILI=1

Andreas Breitenstein: Ein Mann bewährt sich. Marcel Reich-Ranickis Jahre im polnischen Geheimdienst (Neue Zürcher Zeitung, 13. August 2002)
http://www.nzz.ch/2002/08/13/fe/page-article8BR9Q.html

 

Letzte Änderung: 24.8.14

 

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